»Nun meine Herren, daß wir nicht mehr in der Lage sind, einen Ausfall gegen die Orks durchzuführen, haben wir ja bereits des öfteren diskutiert. Es stellt sich also die Frage, wozu wir noch Pferde brauchen.«
Das Raunen unter den Offizieren wurde lauter. Der Zwergenhauptmann Himgi meldete sich zu Wort. »Auf die Lastpferde können wir auf keinen Fall verzichten. Die brauche ich dringend, um mit meinen Sappeuren arbeiten zu können. Wir haben jede Menge schweres Material. Ohne Pferde und Wagen sind wir nur noch die Hälfte wert.«
»Ihr sprecht wahr«, Marcian hatte sich dem Zwerg zugewandt, dessen Offenheit und einfache Art er sehr schätzte. »Und doch habt ihr gerade von unserem Fouragiermeister gehört, daß in längstens sechs Wochen alle Pferde tot sein werden, weil wir kein Futter mehr haben. — Sagt Marbon, wieviel Salz gibt es eigentlich in der Stadt?«
Der kleine Mann trat unruhig von einem Fuß auf den anderen. »Wenn es allein darum ginge, könnten uns die Orks noch jahrelang belagern. Salz ist reichlich vorhanden.«
»Gut!« Marcian verschränkte die Arme und behielt die Kavallerieoffiziere im Auge, die besonders unruhig waren. »Ich habe beschlossen, daß morgen die Hälfte aller Pferde in der Stadt geschlachtet werden sollen, um übermorgen, am letzten Tag des Monats Travia mit den Bürgern der Stadt ein großes Fest zu feiern. Wir wollen der Göttin des Herdfeuers huldigen, denn wir werden ihre Gunst brauchen, wenn unsere Herdfeuer in diesem Winter nicht verlöschen sollen und wir nicht mitansehen wollen, wie zunächst Kinder und Alte sterben, bis der Hunger schließlich auch den stärksten Krieger dahinrafft, ohne daß die Orks auch nur einen Schwertstreich zu führen brauchen.«
»Das ist Gotteslästerung!« Rialla, die Bannerträgerin der Kürassiere und Regimentskommandantin in Abwesenheit des Oberst von Blautann, war aus der Gruppe von Reiteroffizieren vorgetreten. »Travia will keine Blutopfer. Wir würden den Zorn der Göttin herausfordern, wenn wir die Tiere schlachten.«
Zustimmendes Gemurmel erfüllte den Saal. »Nicht ich, sondern Ihr lästert die Göttin, wenn Ihr im Namen Travias für Eure ureigensten Interessen sprecht. Vor jedem Fest wird geschlachtet, und ist es nicht das Herdfeuer, auf dem alles Fleisch zubereitet wird? Eure Rede Rialla ist ebenso durchsichtig wie ketzerisch.«
»Wer seid Ihr, daß Dir mir den Vorwurf der Ketzerei machen könntet?« Die Bannerträgerin blickte ihn herausfordernd an.
»Niemals wird ein kaiserlicher Reiter sein Pferd schlachten«, mischte sich der Stallmeister Ordbert ein.
»Ich würde auch nicht von Euch verlangen, Eure Pferde selber zu schlachten, es gibt genügend Metzger in der Stadt, die diese Aufgabe besser erfüllen«, entgegnete Marcian barsch. »Haltet Ihr es denn für gnädiger, Euren Pferden in einigen Wochen beim Verhungern zuzusehen? Ich will, daß uns unsere Arbeitspferde so lange wie möglich erhalten bleiben. Sie sind für uns wesentlich nützlicher als Reittiere, die nur im Stall stehen. Lieber opfere ich jetzt einen Teil der Pferde, als daß ich bald gar keine mehr habe. Außerdem ist es wichtig, der Stadt ein Fest zu bereiten und die Bürger wenigstens für einige Stunden ihre mißliche Lage vergessen zu lassen. Wenn wir ihnen zeigen, daß wir bereit sind, nicht nur unsere Leben einzusetzen, sondern für sie das geben, was wir lieben, dann werden sie in Zukunft nur um so besser mit uns für diese Stadt streiten. Damit aber jeder von Euch sieht, daß ich von niemandem verlange, was ich selbst nicht zu tun bereit wäre, werde ich morgen früh als erstes mein eigenes Pferd töten.«
»Das ist doch Wahnsinn! Niemals werde ich mein Pferd töten!« Riallas Hand fuhr nach ihrem Schwert. Die große blonde Kriegerin schritt auf Marcian zu. »Niemand von Stand würde sein Pferd töten, um es an Bauern und Bürger zu verfüttern. Nicht wir sind es, die diesem Pack dienen. Sie dienen uns. Ergreift diesen Verräter, der die Grundregeln der Herrschaft des Adels umstoßen will. Marcian ist ein Hochverräter!«
Der Inquisitor zog sein Schwert, bereit jeden Angriff der Bannerträgerin abzuwehren.
»Ich finde, Marcian hat recht«, mischte sich Himgi ein. »Aus ihm spricht die Vernunft. Wir sind in einer Lage, in der man bereit sein muß, auch ungewöhnliche Wege zu gehen, um zu überleben.«
»Wer hat dich gefragt?« Rialla spie dem Hauptmann der Sappeure verächtlich vor die Füße. »Was weiß ein Zwerg schon von Adel. Wer so nahe an der Erde lebt, der denkt wohl auch wie ein Wurm!«
Rialla zog ihr Schwert. Keiner unter den Offizieren rührte sich. Wie gebannt starrten alle auf den gleißenden Stahl.
»Bannerträgerin Rialla, hiermit erkläre ich Euch im Namen des Prinzen für verhaftet.« Marcians Stimme klang kalt und ruhig. »Ich klage Euch des Aufruhrs und der Befehlsverweigerung an.«
Himgi hielt mittlerweile seine Axt in der Hand und hatte sich an Marcians Seite gestellt. »Laßt mich diese Wahnsinnige zur Räson bringen. Noch nie wurde ein Zwerg aus meiner Sippe ungestraft beleidigt.«
Rialla war ein wenig zurückgetreten. Unsicher blickte sie sich nach den anderen Offizieren um. »Erkennt ihr denn nicht, daß Marcian an den Grundfesten der Adelsgesellschaft rüttelt? Sollen wir den Bauern vielleicht als nächstes auch noch unser Land schenken, nachdem sie unsere Pferde verspeist haben? Einem solchen Kommandanten kann kein aufrechter Offizier der Armee folgen. Laßt ihn uns entwaffnen.«
Im Saal herrschte atemloses Schweigen. Dann stellten sich der Stallmeister Ordbert und zwei weitere adlige Offiziere an Riallas Seite.
»Los, trefft Eure Wahl!« Marcian blickte in die Runde. »Jeder muß sich jetzt entscheiden. Aber bedenkt, ich stehe hier im Auftrag der Inquisition. Wer gegen mich steht, der wird von Priesterschaft und Reichsgericht in Acht und Bann gestellt werden.«
Die Amazone Lysandra zog ihr Schwert und stellte sich an Marcians Seite. Der Kommandant nickte ihr knapp zu.
»Wenn es keinen Kläger mehr gibt, wird uns auch niemand mehr richten! Ergreift ihn, wir werden den Verräter vor ein Adelsgericht stellen und noch hier in der Stadt verurteilen.« Riallas Stimme klang schrill.
Doch ihr Schreien kam zu spät. Wie in stummer Übereinkunft zogen die anderen ihre Schwerter, und die vier Rebellen fanden sich umringt von einem Kreis aus Stahl.
»Tut ihnen nichts zuleide!« rief Marcian. »Bringt sie ins Verlies. Sie sollen einen Prozeß haben, wie er ihrem Stand entspricht.«
Zufrieden beobachtete er, wie die Männer und Frauen wieder seinen Befehlen gehorchten. Rialla und die Adeligen wurden abgeführt.
Während der Rebellion war Cindira wie gelähmt neben dem Thron sitzen geblieben. Erst als alles entschieden war, stellte sie sich an Marcians Seite und griff nach seinem Arm.
Dann lehnte sie sich zärtlich an ihn und flüsterte: »Verurteile die Rebellen nicht. Niemand hier würde dulden, daß du über Adelige zu Gericht sitzt. Das ist nicht deine Aufgabe.«
»Aber ...« Marcian verstummte. Cindira hatte recht, aber er konnte es sich nicht leisten, diese Rebellion hinzunehmen, ohne die Aufrührer zu bestrafen.
Der Inquisitor wandte sich zu den Männern und Frauen im Rittersaal um. »Ich danke Euch für Eure Loyalität. Ihr habt gehandelt, wie die Ehre es gebietet. Nur wenn wir stark sind, werden wir die nächsten Wochen überleben. — Morgen werde ich einen Hufschmied und einen Pferdehändler aus der Stadt bestellen. Sie sollen die besten Tiere aussuchen. Alle anderen werden geschlachtet.«
Es war still im großen Saal des Palas. Viele der dort Versammelten besaßen selbst ein Pferd, und keiner konnte sich vorstellen, es zu verspeisen. Als die Offiziere schließlich den Saal verließen, schlich manch einer verstohlen zu den Ställen, um von seinem vierbeinigen Kameraden Abschied zu nehmen, denn wer mochte schon wissen, wen morgen das schwarze Los traf.
9
Arthag war zutiefst beunruhigt. Lange hatte er verhandeln müssen, bis ihm die Priesterschaft von Xorlosch endlich gestattet hatte, die Heilige Halle zu betreten, das größte Zwergenheiligtum Aventuriens. Der Legende nach hatte Angrosch in dieser riesigen, natürlichen Höhle die ersten vom Volk der Zwerge erschaffen; für gewöhnlich wurde nur denen, die auch in Xorlosch geboren waren, Zutritt zu diesem Heiligtum gewährt. Doch das goldene Siegel mit dem Greifenkopf hatte ihm selbst hier Tür und Tor geöffnet. Als Bergkönig Tschubax und die Priester endlich akzeptiert hatten, daß er ein offizieller Bote des Kaiserreiches war und seine Nachforschungen von größter Wichtigkeit für den Ausgang des Krieges mit den Orks sein konnten, machten sie Zugeständnisse.