Aber erst, als er erklärt hatte, er wolle den Menschen die heldenhafte Rolle, die das Zwergenvolk einst bei der Befreiung von Saljeth spielte, wieder ins Gedächtnis rufen, hatte man seinem Anliegen stattgegeben, in der heiligen Halle die 49 Schriftsäulen zu studieren, auf denen die Geschichte der letzten fünftausend Jahre des Zwergenvolkes verzeichnet stand. Arthag wurde jeden Tag von Tschubax persönlich zu den Säulen hinabgeführt, und abends diskutierte der Bergkönig mit ihm über die Auslegung der Schrift. Nyrilla, die Elfe, wurde nicht in den heiligen Berg gelassen. Sie war in einem Gastzimmer am Grund des Felskraters untergebracht worden; Arthag hatte sie schon seit Tagen nicht mehr gesehen.
Wieder versuchte sich der Zwerg in die Bilderschrift auf der Säule vor ihm zu vertiefen. Das Angram war eine der ältesten und geheimnisumwittertsten Schriften. Sie bestand aus Bildern und vieldeutigen Symbolen, so daß fast jede Textpassage verschiedene Interpretationen zuließ. Manchmal hatte Arthag den Eindruck, daß es einfach nur darauf ankam, mit welchen Erwartungen man an die verschlüsselte Schrift ging und so auch nur das fand, was man insgeheim lesen wollte.
Tschubax hatte ihn mehrfach ausdrücklich vor der Gefahr gewarnt, die von diesen verwirrenden Hieroglyphen ausging.
Ganz am äußersten Ende der Säulenreihe kauerte ein Zwerg, dessen genaues Alter niemand mehr kannte. Selbst die Ältesten konnten sich nicht an Zeiten erinnern, in denen dieser Zwerg noch nicht vor den Schriftsäulen gehockt hatte. Die intensive Beschäftigung mit den Geheimnissen seines Volkes hatte ihm den Verstand verwirrt. Tschubax war sich sicher, daß der Greis mehr über die Vergangenheit Deres wußte als irgend ein anderer Zwerg; vielleicht hatte er sogar das Geheimnis der Unsterblichkeit in den alten Schriften gefunden. Wie sonst war sein ungeheuerliches Alter zu erklären? Doch bislang hatte es niemand gewagt, ihm nachzueifern. Selbst die kundigsten Priester mieden es, häufiger als alle paar Wochen für wenige Stunden Textpassagen auf den Säulen zu studieren.
Der Zwerg, dessen Namen niemand mehr kannte, murmelte unablässig unverständliches Kauderwelsch vor sich hin. Arthag spitzte seine Ohren, um dem Raunen des Wahnsinnigen zu lauschen:
»... hylailische Pyromanie ... bosparanische Interfäkalarkainiden ... paranoide Habilitationsphobien ... paramilitanter Populismus ... marginaler Deforationsästhetizismus ...«
Arthag gab es auf und konzentrierte sich wieder auf die Schriftzeichen. Wenn man diesem Unsinn länger zuhörte, mußte selbst das gesündeste Zwergenhirn krank werden.
Erneut versuchte der Amboßzwerg, die Schriftzeichen um diese angsteinflößende Gestalt zu entziffern, die er an diesem Morgen auf der Rückseite der 27. Säule eingemeißelt gefunden hatte. Eine entfernt menschenähnliche Kreatur, die in ihren erhobenen Händen zwei Herzen hielt. Nur wenige Zeilen höher befand sich das Schriftzeichen für Saljeth. In derselben Textpassage schien von einem Hügel die Rede zu sein; König Ramoxosch von Lorgolosch wurde erwähnt. Doch der Zwerg konnte den Sinn der Schrift nicht entschlüsseln. Wie sollte er auch? Er war ein Krieger und kein Gelehrter.
Arthag hatte Kopfschmerzen. Sollte er vielleicht schon zu viel gelesen haben? Konnte es ein, daß dieses alte Wissen auch ihm schon die Sinne verwirrte? Er würde seine Arbeit für heute beenden.
Müde schlich der Zwerg durch die endlosen Gänge des unterirdischen Teils von Xorlosch und verkroch sich in seiner kleinen aus dem Felsen gehauenen Kammer. In ein paar Stunden, wenn die Sonne versunken war, würde Tschubax kommen, um wieder mit ihm zu reden.
Der König besuchte Arthag an diesem Abend ebenso wie an den Tagen zuvor ohne Gefolge. Tschubax trug schlichte Gewänder und machte einen etwas verschrobenen Eindruck, so wie die Gelehrten der Menschen, die zu viel Zeit mit dem Studium alter Schriften verbrachten und sich in Notzeiten kaum ihrer Haut zu erwehren vermochten.
Tschubax hatte seinen eigenen Bierkrug mitgebracht. Ein mächtiges Gefäß aus schwerem Silber. Der König schritt zu dem großen Bierfaß an der Rückwand der kleinen Gästekammer, die Arthag bewohnte, und schenkte sich ein. Dann ging er hinüber zu dem schöngeschnitzten Lehnstuhl, der eigens für den Gebrauch durch den König schon am ersten Abend ihrer Unterredungen in die kleine Kammer getragen worden war. Bedächtig ließ er sich auf dem thronartigen Holzsessel nieder und musterte Arthag eine Weile, bevor er sprach.
»Weißt du, die Menschen sind ein junges Volk, kurzlebig und voller eitler Allüren.« König Tschubax strich sich nachdenklich durch seinen Bart. »Die Geschichte um Saljeth oder um Greifenfurt, wie sie diesen Ort heute nennen, ist ein Musterbeispiel dafür. Zuallererst haben die Schwarzpelze diesen Hügel nahe dem Fluß besiedelt, der jetzt Breite heißt. Es muß zu Zeiten des großen Drachenkrieges gewesen sein, in den Tagen, als unsere Geschichtsschreibung auf den Säulen der Heiligen Halle noch jung war, als dieser Ort vernichtet wurde.
Viele Zwergengenerationen lang war der Hügel dann verwaist, bis schließlich die Großlinge dort siedelten, denn der Platz war günstig gelegen. Es gab eine Furt über den Fluß, und bei Hochwasser ist die Breite bis zu dieser Stelle schiffbar. Rundherum war reichlich fruchtbares Ackerland, so wurden die Bewohner des alten Saljeth schnell reich.
Der einzige Schatten über dem Glück der Siedler waren die stetigen Angriffe der Schwarzpelze auf ihre Stadt. Es mag wohl an die zweihundertfünfzig Jahre vor dem Untergang des Kaiserhauses von Bosparan gewesen sein, als die Orken wieder einmal die nördlichen Städte des Menschenreiches überrannten und sich diesmal für länger dort einrichteten. Damals führte Nargazz Blutfaust vom Stamm der Ghorinchai die Schwarzpelze. Wann die Orken Greifenfurt eroberten, weiß man nicht mehr, doch errichteten sie dort eine mehr als hundert Jahre währende Herrschaft und die Stadt wurde zum Zentrum ihres Blutkultes.«
Arthag hatte dem König mit zunehmender Verwunderung zugehört und nutzte nun die Gelegenheit, als Tschubax aus seinem Bierhumpen trank, um eine Frage zu stellen: »Sagt, ehrwürdige Majestät, wie kommt es, daß unsere Urahnen so sorgfältig die Geschichte eines zu unkultivierten Volkes aufgeschrieben haben?«
Tschubax räusperte sich. »Nun, mein Junge, ich muß einräumen, daß dies wohl alles etwas später niedergeschrieben worden ist. Bald stellte sich nämlich heraus, welch große Bedeutung diese Ereignisse für unser Volk haben sollten.«
Wie um Arthag auf die Folter zu spannen, machte der Bergkönig noch einmal eine Pause, um einen tiefen Schluck zu nehmen, dann fuhr er fort: »Väterchen Ramoxosch, der dritte Bergkönig, der diesen Namen trug, trat seine Regierung an, als die Orken sich schon seit einigen Jahrzehnten in Saljeth festgesetzt hatten. Lange ließ er durch Kundschafter das Treiben der Schwarzpelze beobachten. Immer wieder aufs neue schlugen die Orks die Armeen des alten Kaiserreichs und rückten mit jedem Jahr weiter nach Süden vor. Ganze Heerscharen gefangener Menschen wurden nach Saljeth gebracht, ohne die unheilige Stadt jemals wieder zu verlassen. Als sich absehen ließ, daß die Großlinge dieser Plage nicht mehr Herr werden konnten, rief Ramoxosch unsere Völker zum Kriege, denn die Barbaren standen schon nahe unserer nördlichsten Minen. Boten wurden in alle Bergkönigtümer entsandt, und es dauerte mehr als fünf Jahre, bis Ramoxosch seine Armee um sich versammelt hatte, denn er wählte nur die besten zu diesem Kriegszug aus, und beharrte darauf, daß alle mit neuen Waffen ausgerüstet würden. Schließlich umfaßte unsere Streitmacht mehr als fünfhundert Äxte, und Ramoxosch marschierte nach Norden.« Wieder machte Tschubax eine Pause. Die Augen des Königs glänzten vor Begeisterung. Arthag war froh, daß der Herrscher sich so viel Zeit für ihn nahm. Er wußte, daß der König sein Leben mehr der Erforschung der Geschichte als der Regierung seines Volkes gewidmet hatte und deshalb mehr über die Vergangenheit wußte als irgendein anderer, der ihm Rede und Antwort stehen mochte.