Nach wenigen Augenblicken kam Andra mit einem neuen Krug zurück ins Zimmer. Sie stellte ihn auf den Tisch neben den Stuhl, auf dem sie geschlafen hatte. Dann kramte sie in ihren Sachen, die zu einem Bündel verschnürt in der Ecke lagen. Schließlich zog sie ein kleines Fläschchen aus Silber hervor, goß daraus einige Tropfen in Alriks Trinkbecher und vermischte das Elixier mit reichlich Wasser.
»Trink das, es wird dir guttun!«
Der Ritter gehorchte. Das Wasser war köstlich, obwohl es einem fremdartigen, würzigen Beigeschmack hatte, so wie ein Wein, der durch Harz verfeinert war. Alriks Mund und Kehle waren völlig ausgetrocknet, so als hätte er seit Tagen nicht mehr getrunken.
»Nun, fühlst du dich besser?« Die Jägerin beugte sich zu ihm herab. »Wo bin ich? Wo ist Cromag?«
»Du bist in der Garnison von Wehrheim, und Cromag ist tot.«
Der Oberst starrte Andra verwundert an. »Wie ...«
»Manchmal ist es nicht gut, alles zu wissen. Akzeptiere, daß du jetzt hier bist. Du mußt ein wichtiger Mann sein. Trink noch etwas.«
Andra hatte den Becher erneut mit Wasser und einigen Tropfen aus der silbernen Phiole gefüllt.
»Und der Prinz? Ist er in Wehrheim?« Alrik versuchte sich aufzurichten. »Nein, aber er wird in drei Tagen zurück sein. Bis dahin mußt du wieder gesund sein.«
Der Oberst musterte noch einmal seine Verbände. »Gewiß doch ...« Spöttisch lächelnd sank er in die Kissen zurück und schlief ein.
Noch bevor der Prinz nach Wehrheim zurückkehrte, war Alrik schon wieder in der Lage, sein Bett zu verlassen. Das Gehen bereitete ihm zwar noch Schmerzen, doch verlief seine Genesung wesentlich schneller, als er erwartet hatte.
Über das geheimnisvolle Licht, das er auf der Brücke kurz vor seiner Ohnmacht gesehen hatte, schwieg sich die Jägerin aus. Auch verriet sie ihm nichts über die Umstände seiner Rückkehr in diese Welt. Von Wachen hatte Alrik erfahren, daß eine Patrouille sie nahe des Stadttors gefunden hatte. Er war ohnmächtig gewesen, und nur weil einige Soldaten ihn als Oberst der kaiserlichen Armee wiedererkannt hatten, war ihnen das leerstehende Zimmer eines Offiziers überlassen worden.
Dunkel konnte sich Alrik erinnern, wie ihn ein Medicus besucht hatte und einen Boron-Geweihten rufen lassen wollte. Doch Andra hatte den Mann aus dem Zimmer gejagt. Danach hatte er viel geschlafen. Immer wenn er erwachte, war die Jägerin bei ihm.
Verstohlen blickte er sie von der Seite an. Das letzte, was er auf der Brükke gehört hatte, bevor er zusammenbrach, waren ihre gellenden Schreie gewesen.
Alrik dachte an ihre gemeinsame Flucht durch den Zauberwald. Er wünschte, sie wären wieder dort, ohne eine eifersüchtige Fee, die mit ihren Rittern Jagd auf sie machte.
Der Oberst griff nach Andras Hand. »Habe ich dir eigentlich dafür gedankt, daß du mich hierher gebracht hast?«
»Mach keine Späße mit mir!« Die Jägerin blickte ihn böse an. »Es tut mir leid, daß das passiert ist. Ich wollte ...«
»Ich bin sicher, daß du für uns den einfachsten und ungefährlichsten Weg gewählt hast, den du kanntest. Außerdem bin ich genauso sicher, daß ich schon vor langer Zeit von den Olochtai im Reichforst getötet worden wäre, wenn du mich nicht gerettet hättest.«
»Ist dir die Zeit mit mir wirklich so lange erschienen?«
»Wie meinst du das? Wir waren doch Wochen unterwegs?«
Andra lächelte geheimnisvoll. »In deiner Welt sind nicht mehr als sechs Tage vergangen, seit du Greifenfurt verlassen hast. Erinnerst du dich nicht mehr daran, was ich dir im Feenreich gesagt habe? — Trotzdem glaubte ich, daß dir meine Gesellschaft mehr Kurzweil bereitet hätte.«
»Du weißt doch, wie ich es gemeint habe ...«
»Wie?« Die Jägerin lächelte schelmisch.
Der junge Oberst starrte verlegen vor sich hin. »Ich ...« Alrik räusperte sich verlegen. »Ich ... bin nicht so wortgewandt wie ein Barde oder ein Adliger am Hofe, aber ich wollte dir schon lange etwas sagen ...« »Was?«
Alrik fühlte sich ein wenig schwindelig. Dann flüsterte er leise. »Ich glaube, ich bin in dich verliebt.«
»So, du glaubst nur, daß du mich liebst. Nun ... ich glaube, es ist an der Zeit für mich, diese Stadt zu verlassen. Wenn du in ein paar Jahren vielleicht weißt, was du willst, schau ich noch einmal vorbei.« Andra drehte sich um und eilte davon.
»Halt, bleib stehen.« Alrik bemühte sich, ihr humpelnd zu folgen. »Ich liebe dich«, rief er laut quer über den Exerzierplatz der Kaserne.
Andra blieb stehen. Endlich hatte er sie eingeholt. Alrik legte seinen bandagierten Arm fest um die Schultern der Jägerin und preßte sie an sich. »Wie kommt es, daß du plötzlich so sicher bist, daß du deine Liebe auf unschickliche Art in der Öffentlichkeit herausschreist?«
»Aber ich wollte doch nur ...«, stammelte Alrik unsicher.
Andra drehte sich um und legte ihm den ausgestreckten Zeigefinger auf die Lippen. »Ich weiß«, flüsterte sie. »Wie stark fühlst du dich eigentlich?« Statt einer Antwort grinste der junge Oberst sie an.
Am Abend traf der Prinz in Wehrheim ein und bestellte Oberst von Blautann in sein Quartier. Dort erwarteten ihn neben dem Regenten auch der Generalstab der Reichsarmee. Wegen seiner Verwundungen wurde Alrik gestattet, sich in einen Sessel nahe dem Kamin zu setzen, was ihm insgeheim peinlich war, da alle anderen es vorzogen zu stehen. Doch Schwäche verbat dem Obristen jeden Widerspruch, und so begann er in die ledernen Polster zurückgelehnt über die Vorkommnisse in Greifenfurt zu berichten.
Die ungewöhnlichen Ereignisse seiner Reise verschwieg er allerdings aus Angst, man könne ihn für einen Phantasten halten und alles, was er gesagt hatte, in Frage stellen. Als er schließlich mit seiner Erzählung geendet hatte, ergriff der Prinz das Wort.
»Wie Ihr seht, meine Freunde, ist die Lage der Stadt verzweifelt. Ich bin mir sicher, daß der Schwarze Marschall während des Winters alles unternehmen wird, um Greifenfurt zu stürmen.«
»Wie kann er das tun, mein Prinz? Sobald er seine Lager verläßt, werden wir ihm nachsetzen, und das weiß Sadrak Whassoi.« Marschall Haffax, der greise Oberkommandant der kaiserlichen Armee, machte sich nicht einmal die Mühe, vom Kartentisch aufzublicken.
»Mein lieber Haffax, ich weiß, daß Ihr die Erfahrung aus vielen Feldzügen auf Euren Schultern tragt, und schon oft habt Ihr mir weisen Rat gegeben, doch habt Ihr schon vergessen, wie wir im letzten Winter genarrt worden sind, als der Orkenführer seine Truppen heimlich nach Südwesten verlegte und uns vorgaukelte, daß alle seine Lager noch voll besetzt seien? — Ich kenne Sadrak Whassoi jetzt, und ich bin mir sicher, daß er in diesem Winter Ähnliches versuchen wird.«
»Daß dieser schwarzpelzige Fuchs schlau ist, wissen wir, Eure Majestät, doch was ist, wenn er nur darauf wartet, daß wir die wenigen Truppen, die uns noch verblieben sind, weiter schwächen? Und wenn er davon ausgeht, daß wir glauben, er würde sich wieder so verhalten wie im letzten Jahr? Dann öffnen wir ihm Tür und Tor, um erneut tief ins Reich einzufallen. Ich bin dagegen, auch nur einen einzigen Soldaten aus seinem Winterquartier abzuziehen!« Der alte Haffax hatte sich während seiner Darlegungen immer mehr in Rage geredet, so daß er nun mit hochrotem Kopf in der Runde der Offiziere stand.
Die älteren Frauen und Männer des Generalstabs nickten zustimmend, als der Marschall endete und tuschelten leise.
»Vielleicht ist es am besten, beide Pläne zum Teil umzusetzen ...« Ein großer Mann mit langem rotem Haar, durch das sich schon die ersten grauen Strähnen zogen, hatte sich eingemischt. Er trug den neumodischen Rock eines Seeoffiziers mit buntem, umgeschlagenem Kragen. Seine Haut war wettergebräunt; ruhelos musterten seine dunkelblauen Augen die anderen in der Runde.