Marcian schnaubte verächtlich. Als er Gernot Brohm mit den anderen Verschwörern beim Verlies gestellt hatte, sagte der Patrizier, daß sich die Bürger nur deshalb den Soldaten angeschlossen hätten, damit dieser gottverlassene Tempel verbrannt würde. Der Patrizier glaubte tatsächlich, die Göttin Peraine würde es vergeben, wenn ihr Haus in Flammen aufginge, denn schließlich sei das der einzige Weg, die Stadt vor der weiteren Ausbreitung der Seuche zu retten.
Wieder starrte der Inquisitor die weißen Wände seines Turmzimmers an. Ständen nicht die Orks vor den Toren der Stadt, so würden die Bürger in Scharen fliehen. Vielleicht mochte sogar der Tag kommen, an dem die Schrecken innerhalb der Mauern so groß wurden, daß sie sich lieber in die Knechtschaft der Schwarzpelze begaben, als hier elendig zugrunde zu gehen.
Der Inquisitor schaute zu Cindira hinüber. Hoffentlich war nicht auch sie von der rätselhaften Krankheit befallen. Die Schlachtfeldgilbe konnte man überstehen. Was aber mochte die armen Kreaturen im Tempel der Göttin heimgesucht haben?
Nun, er war Krieger und kein Medicus. Was er tun konnte, war, sich über ein gerechtes Urteil für die Rebellen den Kopf zu zerbrechen. Und wieder begann Marcian seinen endlosen Marsch.
Viel Volk hatte sich am Morgen des nächsten Tages auf dem Platz der Sonne versammelt, und der Inquisitor argwöhnte, daß die meisten von ihnen hier waren, um Köpfe rollen zu sehen. Rialla, Gernot Brohm und die anderen wurden unter strenger Bewachung und in Ketten auf den Platz gebracht. Marcian hatte im Portal des Magistrats einen mächtigen Lehnstuhl aufstellen lassen. Neben ihm stand ein Tisch, auf dem ein Buch, ein Richtschwert und ein Stab aus dünnem Holz lagen.
Für alle Fälle hatte der Inquisitor auf den Dächern rings um den Platz Himgis mit Armbrüsten bewaffnete Zwerge Stellung beziehen lassen. Marcian ließ den Blick über die Dächer schweifen. Dann erhob er sich von seinem Sitz, und das Stimmengemurmel auf dem Platz verstummte.
»Die Schuld der Angeklagten ist jedem bekannt. Sie haben sich gegen meine Herrschaft aufgelehnt und versucht, Rebellen aus dem Kerker zu befreien. Doch vielleicht gibt es jemanden, der ein Wort zu ihrer Entlastung sagen kann?« Marcian blickte erwartungsvoll in die Runde. Neben den Bürgern waren auch alle Offiziere und viele Soldaten auf dem Platz der Sonne versammelt.
»Nun?« Der Inquisitor hatte noch einmal die Stimme erhoben.
»Gut. Wenn keiner der hier Anwesenden etwas zugunsten der Angeklagten zu sagen hat, so will ich es tun. Sie alle haben ohne Ausnahme ihr Leben für diese Stadt eingesetzt. Und fast alle haben außer Ehre auch Wunden im Kampf mit den Orks davongetragen.«
Zustimmendes Gemurmel. Eine Frau schrie lauthals: »Recht gesprochen!« »Wir alle wissen auch, daß wir jede Hand, die ein Schwert führen kann, brauchen werden, um diese Stadt weiterhin gegen die Orks zu halten.« Marcian legte seine Hand auf das Buch, das neben dem Richtschwert ruhte. »Der CODEX RAULIUS kennt für Hochverrat und Rebellion in Kriegszeiten nur ein Urteil.«
Der Inquisitor nahm das schwere Buch vom Tisch, schlug eine Stelle auf, die er durch ein Lesezeichen markiert hatte und begann laut vorzulesen: »Ein Anführer, der sich in Kriegszeiten gegen das Wort seines Herrn empört, ist ohne groß Federlesens am Halse zu erhängen, bis das der Tod eintrete, was gewißlich der Fall ist, so dem Delinquenten die Zung aus dem Maule quillt. Ist der Empörer von adligem Blut, so hat er das Recht, durch die Klinge des Henkers zufallen, ohne daß dem einfachen Volk sein Tod ansichtig wird.«
Danach machte Marcian eine wohlgesetzte Pause, ehe er fortfuhr:
»Wie alle hören konnten, erklärt das alte Recht des Kaisers Raul die Rebellion in Kriegszeiten zu einem Verbrechen, das nur durch die Höchststrafe gesühnt werden kann, und nicht einmal ich habe das Recht, ein Urteil, das von einem Kaiser gesetzt wurde, zu beugen.«
Die Aufrührer sahen zu Boden. Vor allem Rialla hatte schon lange mit ihrem Leben abgeschlossen. Als Offizierin wußte sie nur zu gut, was es bedeutete, in Kriegszeiten gegen einen Vorgesetzten das Schwert zu ziehen. Sie selber hätte an Marcians Stelle nicht anders entschieden. Wieder erhob der Inquisitor seine Stimme. »Seit zehnmal hundert Götterläufen regieren Rauls Erben das Neue Kaiserreich, das sich aus der Asche der Kriege gegen die Dämonenanbeter von Bosparan erhoben hat. Nie hat jemand dieses Gesetz in Frage gestellt, doch ausdrücklich heißt es im CODEX RAULIUS, altes, Recht sei gutes Recht, womit gemeint ist, daß ein älterer Schiedsspruch immer schwerer wiegt als ein Urteil jüngeren Datums, falls die Urteilsfindung in einem Gerichtsfall nicht ganz eindeutig ist.«
Marcian ließ seine Worte auf die Menge wirken und dankte im stillen Praios dafür, daß er während seiner Ausbildung als Inquisitor so ausführlich in der Rechtsprechung unterwiesen worden war. Bislang hatte ihm dieses Wissen kaum Nutzen gebracht, abgesehen von einigen Fällen, in denen er der Vollstreckung der gefürchteten ›INQUISITORISCHEN HALSGERICHTSORDNUNG‹ beiwohnen mußte, die aus den Zeiten der Priesterkaiser stammte und nur noch sehr selten zur Anwendung kam.
Auf dem Platz der Sonne war es vollkommen still. Alle erwarteten gebannt die neue Wendung, die die Urteilsverkündung zu nehmen schien.
»Am heutigen Morgen habe ich den Vater des Delinquenten Gernot Brohm aufgesucht, um ihm kundzutun, welches Urteil seinen Sohn erwartet. Da der Magistratsherr ein gebildeter Mann ist, wußte er, was ich ihm zu sagen hatte, doch wies er mich auf die Abschrift eines alten Gesetzesbandes aus der Zeit noch vor Bosparans Fall hin. Diese Sammlung wird das ›IUS DIVI HORATHIS‹ genannt. Angeblich geht das Gesetzbuch noch auf den Gründer des alten Kaiserreiches zurück. Zu Zeiten der Herrscher von Bosparan war es die meist angewandte Rechtssammlung, doch da sich erwies, daß viele der Urteilssprüche, die ein Kaiser gesetzt hatte, der sich in ketzerischem Ansinnen auch als Gott verehren ließ, ungerecht waren, hat uns unser Kaiser Raul ein neues Gesetz gegeben.«
Auf ein Zeichen Marcians trat der Magistrat Brohm vor und überreichte dem Kommandanten eine Schriftrolle. Der Inquisitor hielt die Pergamentrolle für einen Moment hoch über den Kopf, so daß alle auf dem Platz sie sehen konnten. Dann entrollte er das Schriftstück und las laut vor: »Ziehet ein Soldat das Schwert oder ein ander Mordinstrument in empörerischer Absicht gegen seinen Vorgesetzten, so ist er des Todes, wenn dies in Friedenszeiten geschehet. Doch mag auch der Fall eintreten, daß die Noth so groß ist, daß kein Krieger zu entbehren ist, auch wenn sein Tath todeswürdig sei. So mag der kluge Heerführer dann den Empörer nach dem IUS BELLORUM strafen, indem er ihn von den anderen Absondere, auf das er nicht mehr das Gift aufrührischer Gedanken unter den braven Soldaten verbreiten könne. Ein endgültig Urteil soll erst dann gesprochen sein, wenn die Waffen wieder Schweigen und die Noth gebannet ist. Hat der Empörer in dieser Zeit bewiesen, daß er seine Taten aufrichtig bedaure und auch sonst Muth im Kampf für die rechte Sache gezeiget, so mag dann die Todesstrafe ausgesetzt und ein geringeres Urteil vollstreckt werden.«
Wieder schwieg der Inquisitor einen Moment und blickte in die Runde. »Dieses Recht ist für das Reich nicht verbindlich«, fuhr Marcian dann mit lauter Stimme fort. »Und doch erlaubt die Regelung, nach der altes Recht gutes Recht ist, in Sonderfällen seine Anwendung. Doch brauche ich für ein mildes Urteil die Zustimmung aller. Ist nur einer unter euch, der sich gegen diesen Richterspruch empört, so sind die Delinquenten des Todes. Seid ihr aber für die Anwendung des Gesetzes aus Horas' Zeiten, so werde ich alle Rebellen auf die Bastion am Fluß verbannen und alle Soldaten abziehen, die dort bisher ihren Dienst tun. So ist es den Aufrührern nicht mehr möglich, ihre verräterischen Ideen zu verbreiten, und doch mögen sie, falls es zu einem Angriff kommt, noch immer mit der Waffe in der Hand dieser Stadt dienen.«