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Als Marcian geendet hatte, fanden die Bürger und Soldaten auf dem Platz in kleinen Gruppen zusammen und debattierten. Offensichtlich waren nicht alle einverstanden, daß Marcian ein so mildes Urteil fällen wollte. Vielleicht waren auch manche enttäuscht, weil sie sich um das Spektakel der Hinrichtung betrogen fühlten. So richtete Marcian noch einmal sein Wort an die Versammelten:

»Wie ich sehe, seid ihr durchaus nicht einig über mein Urteil. Vergeßt nicht, daß ich es euch anheimstelle, wie entschieden wird.«

Der Inquisitor nahm den dünnen Holzstab vom Tisch an seine Seite. »Ist da auch nur einer unter euch, der mit diesem Urteil keinen Frieden finden mag, so soll er diesen Stab aufheben und vor aller Augen zerbrechen. Mit dieser Tat hat er über das Leben der Angeklagten entschieden, und es wird so sein, als habe er höchstselbst das Richtschwert geführt. Wer immer also in diesen blutigen Zeiten ein Unrecht mit Blut aufgehoben sehen will, der möge nun vortreten und den Stab über die Angeklagten brechen.«

Mit diesen Worten schleuderte der Inquisitor den Holzstab vor sich in den Schlamm des Platzes.

Die Menge verstummte.

Keiner wagte sich vor, den Stab aufzuheben.

Marcian wußte wohl, daß er es mit diesem Urteil vielen nicht recht machen würde, doch zumindest konnte er nun jeden seiner Kritiker fragen, warum er den Stab nicht aufgehoben habe.

Der Inquisitor ließ sich viel Zeit, bis er sich endlich aus seinem Stuhl erhob.

»Wie ich sehe, ist es euer Wille, daß die Aufrührer von ihren Kameraden getrennt werden. So höret nun, was ich zu verkünden habe: Noch in dieser Nacht werden alle Soldaten, die bislang ihren Dienst in der Bastion am Fluß versehen haben, von diesem Posten abgezogen. An ihrer Stelle sollen nun die Rebellen dort Dienst tun, wo sie jeder aus der Stadt bei ihren Taten beobachten kann, ohne daß sie dort Gelegenheit haben, Unfrieden zu stiften.«

Rialla trat in ihren Ketten vor und richtete ihr Wort an den Kommandanten. »Ich bereue nicht, daß ich mich dagegen aufgelehnt habe, daß Ihr unsere Pferde habt schlachten lassen, doch tut es mir leid, gegen Euch das Schwert gezogen zu haben. Ich hoffe, daß mein Schicksal mir erlaubt, diese Tat zu sühnen.«

»Das werden die Zwölfgötter bestimmen«, sagte Marcian leise und fuhr dann mit erhobener Stimme fort. »Nehmt den Gefangenen die Ketten ab. Sie mögen in ihren Quartieren packen, was immer sie für die Zeit der Verbannung glauben zu brauchen. Sobald das Praios-Gestirn versunken ist, sollen sie sich am Hafen einfinden, um von dort zur Bastion geschifft zu werden. — Wer nicht bis Einbruch der Dunkelheit im Hafen erschienen ist und sich damit erneut meinem Willen widersetzt, hat sein Leben verwirkt!«

Der Inquisitor raffte seinen Umhang und trat auf den Platz. In der schweigenden Menge bildete sich eine Gasse, so daß er ungehindert zur Garnison gehen konnte. Marcian fühlte sich erleichtert. Er war der Überzeugung, ein gerechtes Urteil gefällt zu haben.

Nun mußte er nach Cindira sehen und die Sorge, daß ihr Fieber sich verschlechtert haben könnte, beflügelte seine Schritte.

»Sie verlegen Truppen in das Bollwerk am Fluß?« Sharraz Garthai schaute den Boten ungläubig an. Er hatte sich an diesem Abend sehr früh in sein Zelt zurückgezogen, um sich dort mit seinen Sklavinnen zu vergnügen. »Bist du auch sicher?«

»Ja, Herr. Ich selbst habe gesehen, wie mehrere kleine Boote den Fluß überquert haben und Krieger durch eine kleine Pforte in das mächtige Steinhaus gelassen wurden.«

Der junge Krieger, der die Nachricht überbrachte, zitterte. Er wußte, was es bedeuten konnte, Sharraz Garthai ungerechtfertigt bei seinen Vergnügungen zu stören. Doch er hatte keine Wahl gehabt. Die anderen Krieger hatten ihn gezwungen zu gehen, weil er der Schwächste war und es nicht viel zählte, falls Sharraz ihn im Zorn erschlagen würde.

»Ruf die Häuptlinge und Schamanen zusammen und hol mir auch den Menschen und den Zwerg. Ich will mich mit ihnen beraten, was das zu bedeuten hat. Los, mach dich davon!«

Ohne ein Wort zu verlieren, verschwand der Bote in der Dunkelheit.

Noch während die Häuptlinge und die anderen Orks, deren Rat gehört werden mußte, sich wenig später berieten, traf ein zweiter Bote ein. Diesmal hieß es, daß noch viel mehr Krieger die vorgeschobene Stellung am Fluß verlassen hätten, als dort an Verstärkungen eingetroffen waren.

Diese Nachricht löste große Verblüffung aus. Hatte man zunächst vermutet, daß die Greifenfurter einen Angriff vorbereiteten, weil auf der anderen Seite des Flusses die Stellungen der Orks am schwächsten waren, so konnte jetzt niemand mehr einen Sinn in diesem törichten Unterfangen sehen.

Schließlich verkündete ein Schamane laut: »Vielleicht haben die Geister ihrer Ahnen sie gewarnt, daß bald viele kampfeslüsterne Krieger, die der große Sadrak Whassoi aus den Winterlagern im Osten abgezogen hat, unsere Truppen verstärken werden. Mag sein, daß sie glauben, nun jedes Schwert in der Stadt zu brauchen.«

»Und warum sind dann nicht gleich alle gegangen? Das ist doch Unsinn, nur wenige Kämpfer zurückzulassen, die wir dann um so leichter besiegen können!« Ein Kriegshäuptling hatte zornig seine Stimme erhoben. Da stand Sharraz Garthai auf. »Ich glaube, sie wollen uns eine Falle stellen. Vielleicht haben sie bemerkt, was für Arbeiten wir hinter den Erdhügeln betreiben. Sie wollen, daß wir glauben, uns drohe die Gefahr, daß sie das andere Flußufer zurückerobern. Sie wollen uns von unserem eigentlichen Vorhaben ablenken!«

»Aber warum haben sie die Truppen dann geschwächt, statt sie zu verstärken?« mischte sich Gamba ein.

»Nun, Geisterrufer, das liegt doch auf der Hand. Sie wollen uns täuschen. Was sagt die Zahl der Krieger schon über ihre Kampfkraft aus? Zehn Oger wiegen viel mehr als selbst zehn Krieger meiner Leibwache.«

Einige Krieger murmelten unwillig, doch keiner wagte, Sharraz offen zu widersprechen.

»Habt ihr vielleicht die schrecklichen Krieger mit den schwarzen Umhängen vergessen? Es war finster, als die neuen Soldaten in das große Steinhaus am Fluß kamen. Niemand konnte erkennen, wer sie waren, und die Geister unserer Ahnen haben uns verraten, daß sich diese besonderen Krieger vor dem Licht des Himmels schützen müssen.«

Alle schwiegen.

»Vielleicht wissen sie, daß wir bald unsere Truppen verstärken, und versuchen jetzt, uns einen vernichtenden Schlag zu versetzen. Und wo sonst sollen sie damit anfangen als an der Stelle, wo die wenigsten und schlechtesten unserer Krieger stehen?«

»Und was willst du tun, um sie aufzuhalten?« fragte Kolon. »Wir wissen doch schon, daß unsere Kämpfer die Geisterkrieger mit den schwarzen Umhängen nicht aufhalten können.«

»Krieger können das wirklich nicht! Aber vielleicht können es die Maschinen, die Steine mit der Kraft von Riesen schleudern. Vielleicht vermag es aber auch der menschliche Geisterrufer, das Licht des Himmels auf die mächtigen Krieger zu lenken.«

»Was soll das heißen?« Gamba war aufgesprungen.

»Das soll heißen, daß der Zwerg und der Mensch, die Sadrak Whassoi so sehr schätzt, nun beweisen können, was sie wert sind. Ihr beide werdet noch in dieser Nacht auf das andere Ufer gehen. Euch werden jene Krieger begleiten, die als erste fortgelaufen sind, als die Geister unser Lager angegriffen haben. Sie sollen mit euch sterben oder ihre Ehre wieder herstellen. Außerdem sollen noch heute nacht alle Maschinen, die Kolon gebaut hat, auf die andere Seite des Flusses geschafft werden. Vielleicht haben sie einen Nutzen, wo die Kraft des Schwertarmes nicht ausreicht.«

»Aber die Tunnel ...«, wandte Kolon ein.

»Die Tunnel werden unter der Aufsicht meiner Schamanen weitergebaut. Du hast mir erst gestern erzählt, daß es wohl kaum mehr als zehn Tage dauern wird, bis sich die Sklaven bis unter den Hügel gegraben haben. Das werden wir auch ohne dich schaffen.«

»Wie ihr befehlt, aber ihr Häuptlinge und Schamanen, erinnert euch meines Widerspruchs. Die Kunst, Gänge in den Leib Sumus zu graben, ist nur wenigen gegeben, und wenn ihr den Unmut der toten Mutter erweckt, weil ihr Fehler macht, so vergeßt nicht, wer mich aus den Tunneln vertrieben hat.«