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Sein Vater hatte sich einen ganzen Tag betrunken, als der Henker gestorben war und geschimpft, nun sei auch noch sein einziger Freund tot. Abends war Vater dann nicht einmal mehr in der Lage gewesen, die Leiter zu seiner Schlafkammer emporzusteigen. Marrad erinnerte sich noch ganz genau, wie er dann mit seiner Schwester Jorinde Kissen und Decken heruntergebracht hatte, um Vater auf dem Boden ein Lager zu bereiten.

Marrad erschauderte. Was würde er jetzt für ein warmes Bett geben. Er kniff die Augen zusammen und blinzelte über den Fluß. Kein Licht brannte in der Bastion. Draußen auf dem dunklen Wasser schienen die Wellen höher zu sein als im Hafen.

Er mußte jetzt los! Mußte hinüberschwimmen, bevor die Kälte ihm alle Kraft geraubt hatte. Wenn er das schaffte, wäre er ein Held, und dann würde sich Vater auch mehr um ihn kümmern.

Mit einem Seufzer stieß sich Marrad vom Gitter ab und schwamm gegen die Strömung an.

In sehr heißen Sommern war das Wasser hier so flach, daß man zur anderen Seite des Ufers waten konnte, doch der Regen der letzten Wochen hatte die Breite anschwellen lassen. Sie führte viel mehr Wasser als sonst zu dieser Jahreszeit.

Mühsam kämpfte Marrad gegen die Strömung an. Jetzt könnte er die Kräfte seines Vaters brauchen. Er mußte ein Uferstück weit nördlich der Bastion anpeilen. Würde er versuchen, in grader Linie auf den Turm zuzuschwimmen, würde er weiter südlich bei den Stellungen der Orks angetrieben werden. Die Wellen schlugen Marrad ins Gesicht prustend spuckte er Wasser. Gestern früh hatte er zwei alte Frauen erzählen hören, der schwarze Marschall sei mit seinem Heer nicht weit nördlich von der Stadt und hätte allen seinen Kriegern befohlen, in die Fluten der Breite zu pinkeln, damit das Wasser vergiftet wurde. Ob das der Wahrheit entsprach? Immerhin war der Wasserspiegel nicht gesunken, obwohl es in den letzten Tagen viel weniger geregnet hatte.

Marrad konnte jetzt schon die kleine, steinerne Treppe sehen, die an der Rückseite der Bastion zum Fluß hinabführte. Noch ein paar Stöße, und er hätte es geschafft. Er biß die Zähne zusammen. Schließlich erreichte er das andere Ufer und klammerte sich an einen Eisenring seitlich der Treppe, an dem sonst Boote vertäut wurden. Er brauchte eine ganze Weile, genügend Kraft zu sammeln, um sich aus dem Wasser zu ziehen.

Vorsichtig kroch er im Dunkeln die Stufen hinauf. Eigentlich dürften ihn die Orks hier, auf der vom Land abgewandten Seite des Turmes, nicht sehen. Leise klopfte er an die kleine Ausfallpforte am Ende der Treppe. Nichts rührte sich.

Sollten die Schwarzröcke die Bastion vielleicht gar schon gestürmt und alle niedergemacht haben?

Marrad zögerte. Dann klopfte er noch einmal, diesmal etwas lauter. Nach einer Ewigkeit hörte er schließlich, wie sich Schritte näherten. Mit leisen Knirschen wurde ein Guckfenster in der Tür geöffnet.

»Wer dort?« flüsterte eine Frauenstimme. »Marrad, der Bote Marcians!« Marrad versuchte, seine Stimme etwas tiefer klingen zu lassen, doch der Versuch mißlang.

»Zeig dich!« erklang es hinter der Tür. Marrad richtete sich auf. Dann war das Geräusch eines Riegels zu hören, der zurückgeschoben wurde. Die Tür öffnete sich, und Rialla schaute ihn mehr ärgerlich als überrascht an. Marrad huschte durch das Tor, das Rialla eiligst wieder hinter ihm verschloß.

»Welche Botschaft ist so wichtig, daß Marcian dich dafür in den Tod schickt?«

Marrad wiederholte, was der Kommandant am Mittag auf der Mauer gesagt hatte.

Rialla blickte ihn ernst an. »Und um das zu sagen, hat dich Marcian geschickt?« Die Bannerträgerin legte den Kopf schief und musterte ihn eindringlich.

Marrad fühlte sich zunehmend unwohler. Er war doch unter Helden, und die Helden in den Liedern der Troubadoure verhielten sich ganz anders. Einen Moment überlegte er, ob er das Rialla nicht sagen sollte, doch dann entschied er sich anders und erzählte der großen, blonden Kriegerin verlegen, daß er nicht ausdrücklich den Befehl hatte, diese Botschaft zu überbringen.

Rialla lächelte ihn an. »So ist das also ...« Dann klopfte sie ihm auf die Schulter. »Komm jetzt erst mal mit nach oben, da bekommst du eine Dekke und kannst dich am Feuer aufwärmen. Dann sollst du den anderen erzählen, warum du hier bist. Wenn du schon dein Leben riskierst, Marrad, dann sollen auch alle hören, was du uns zu sagen hast!«

Das Geräusch splitternden Steins weckte Rialla am nächsten Morgen. Die Orks hatten wieder begonnen, den Turm zu beschießen.

Diejenigen, die nicht zur Wache eingeteilt waren, hatten es sich ringsherum bequem gemacht und dösten oder schliefen. Hier war es warm, denn im Zwischengeschoß gab es einen großen Kamin, auf dem das Essen für die Besatzung zubereitet wurde. Durch das Feuer wurde die Kälte aus dem Gemäuer vertrieben.

Die Kriegerin gähnte und reckte sich. Dicht neben ihr lag der kleine, blonde Junge, der letzte Nacht durch den Fluß geschwommen war, um zu berichten, daß Marcian ihnen die Rebellion vergeben hatte.

Sie mußte lächeln. Was der Kleine gemacht hatte, war aberwitzig, aber mutig. Aus ihm wäre sicher ein guter Krieger geworden. Marrad schlief noch immer, er war so erschöpft, daß ihn nicht einmal das dumpfe Dröhnen aufschreckte, das beim Aufschlag der Steinkugeln auf die Mauer durch den ganzen Turm lief.

Rialla griff nach Helm und Schild. Es war an der Zeit, daß sie in den zerstörten oberen Turmgeschossen nach dem Rechten sah.

Vorsichtig hinter den Rundschild geduckt, schlich sie die Treppe hinauf. Dadurch, daß ein Teil der Westwand zerstört war, konnten die Bogenschützen der Orks direkt in den Turm schießen. Selbst einige Abschnitte der Wendeltreppe boten jetzt keine Deckung mehr. Im ersten Geschoß war alles in Ordnung. Die Wachen hatten sich hinter die Trümmer der eingestürzten Wand gekauert und beobachteten aufmerksam die Stellungen der Schwarzpelze.

Wieder sauste eine der mächtigen Steinkugeln heran und zersplitterte krachend an der Turm wand. Besorgt blickte Rialla zur Decke. Ein Dutzend fingerdicker Risse zog sich durch das Gewölbe. Bald würde das ganze marode Gemäuer in sich zusammenfallen.

Na ja, was sollte es? Dann hatte die Sache wenigstens ein Ende. Durch den ersten Mauereinbruch waren alle vier Geschütze im Turm zerstört worden. Sie konnten sich gegen den Beschuß der Orks nun nicht einmal mehr zur Wehr setzen. Je schneller das hier vorbei war, desto besser.

Die Bannerträgerin schlich ins nächste Geschoß. Ein Pfeil verfehlte nur knapp ihren Hals und schlug in die Wand. Zum Glück trauten die gegnerischen Bogenschützen sich meistens nicht nahe genug heran, um genau zielen zu können, dachte die Kriegerin und setzte ihren Weg fort. Der Boden im obersten Geschoß des Turmes waren sogar nur noch wenige Fuß breit stehengeblieben.

Rialla fluchte, als sie wieder an die Katastrophe von vor drei Tagen dachte. Hier hatte sie ihre meisten Kämpfer verloren. Nicht durch die Schwerter der Orks, sondern an den herabstürzenden Gesteinsmassen waren die Verteidiger gestorben. Ein elender Tod für einen Krieger! Rialla mußte diese trüben Gedanken vertreiben. Sie war Offizierin. Sie mußte den anderen ein Vorbild sein, ihnen Mut machen.

»Was machen unsere Freunde?« rief sie leise zu den dreien, die zwischen den Trümmern kauerten.

»Ich glaube, die haben heute morgen Zielwasser von ihren Schamanen zu trinken bekommen!« Die schwarzhaarige Olda drehte sich zu ihr herum. »Vorhin haben sie Ordbert erwischt.«

Rialla blickte zu dem kräftigen Mann, der an einen Felsblock lehnte. Von der Treppe her sah es ganz so aus, als würde er immer noch aufmerksam zu den Orks hinüberspähen.

»War ein sauberer Schuß«, flüsterte Olda, fast so, als würde sie mit sich selbst reden. »War halt ein Glückspilz, der Stallmeister. Gestern hat er mich noch beim Würfeln ruiniert, und heute kriegt er einen Blattschuß. Hat nicht einmal geschrien. Ist einfach zur Seite gekippt, als wäre er eingeschlafen.«

Rialla schlich hinter dem Schild gekauert zu der Schwarzhaarigen. »Kommt ihr auch zu zweit klar?«