»Wir werden ihn dem Blutgott abtrotzen«, murmelte sie zwischen zusammengepreßten Lippen. Dann rief sie Gernot und die Bürgerstochter Ludara zu sich.
»Ich will, daß der Junge gerettet wird! Ich habe drei Ästchen vom Kamin unten mitgebracht. Wer von uns das kürzeste zieht, soll mit Marrad durch den Fluß schwimmen, um ihn in Sicherheit zu bringen. Eine Aufgabe, die vielleicht mehr Mut erfordert, als hier zu bleiben und zu sterben, denn wer jetzt geht, wird immer als Feigling verschrien sein. Doch vielleicht ist das Überleben dieses Opfer ja wert? Nun zieht!«
In Ludaras Gesicht zeigte sich zum ersten Mal seit dem Kampf wieder eine Regung. Es schien, als habe sie neue Hoffnung geschöpft.
Rialla starrte auf das Ästchen, das in ihrer Hand zurückgeblieben war. Es war das längste von allen. Rondra war ihr gnädig! Sie hätte auch nicht erwartet, daß die Kriegsgöttin sie zur schändlichen Flucht verdammen würde. Dann kamen die beiden anderen heran, um ihre Hölzer zu vergleichen. Der Patriziersohn hatte das kürzeste gezogen.
Ludara seufzte und wandte sich ab. Wie vorher starrte sie wieder völlig apathisch zu der Stellung der Orks hinüber.
Rialla und Gernot blickten sich einen Augenblick an. Dann ging der Patriziersohn zu Ludara und drückte ihr sein Holz in die Hand. Überrascht blickte sie ihn aus großen blauen Augen an. »Warum ...?«
»Vielleicht, weil ich dem Schicksal meinen Willen aufzwingen möchte? Ich bin ein freier Mann und lasse kein Holzstöckchen über mein Leben befinden. Geh jetzt!«
Ludara umklammerte das Holz wie ein kostbares Kleinod.
»Kannst du schwimmen?« wollte Rialla wissen.
»Wie ein Fisch im Wasser!« Die Bürgerstochter strahlte sie voll neuer Hoffnung an.
»Gut, dann nimmst du den Jungen und bringst ihn zum anderen Ufer. Schwimm zur Hafenmauer. Die Wachen sollen dir dort ein Seil herunterlassen. Ich selber werde so weit wie möglich in den Ruinen hinaufsteigen und dir mit meinem Bogen Deckung vor den Pfeilen der Orks geben.« Schweigend stiegen sie die Treppen hinab, während Gernot zurückblieb, um die Orks zu beobachten.
Rialla nahm ein glühendes Holzscheit aus dem Feuer im Kamin. Inzwischen hatte Ludara ihre Kleider abgestreift und damit begonnen, ihre Muskeln zu massieren. Als sie damit fertig war, nahm die Bürgerstochter Marrad auf den Arm. Der Junge stöhnte leise. Seine Schulter war blutverklebt, und der Knochen des gebrochenen Schlüsselbeins ragte klaffend aus der Wunde. Rialla trat zu den beiden und drängte zur Eile.
»Bleib in Deckung des Turmes, bis du meinen Schlachtruf hörst!« befahl die Kriegerin, während sie die Treppe zur Ausfallpforte hinabstiegen. »Ich habe noch etwas zu erledigen.«
Sie schaute zu, wie die blonde Frau mit dem Knaben in die eisigen Fluten watete. Einen langen Augenblick starrte sie fast sehnsüchtig auf die zwei herab, dann hob sie nach Art der Krieger die Hand zum Gruße und wandte sich ohne ein weiteres Wort um.
Nachdem sie die kleine Tür hinter den beiden wieder verriegelt hatte, eilte Rialla in den Keller. Dort zerrte sie alle Vorräte auf einen Haufen und schüttete ein kleines Faß Lampenöl darüber aus. »Sie werden hier nur geborstene Steine und rauchende Trümmer finden«, murmelte sie grimmig und setzte die Vorräte in Brand. Dann lief sie die Treppe hinauf und legte Feuer an die Betten, in denen ihre Krieger geruht hatten. Ebenso verfuhr sie im Zwischengeschoß. Alles, was ihr von Wert erschien, zertrümmerte sie und warf es in den Kamin. Allein ihren Bogen und einen Köcher voller Pfeile nahm sie mit nach oben. Als sie wieder zwischen den Trümmern erschien, in denen Gernot wachte, quoll eine dicke Rauchfahne hinter ihr aus dem Schacht der Wendeltreppe.
»Was ist geschehen?« Der Patriziersohn starrte sie mit weit aufgerissenen Augen an.
»Ich habe die Orks um ihre Beute gebracht«, antwortete sie kalt. »Ihr einziger Siegespreis sollen unsere Leichen sein.« Mit diesen Worten kletterte sie die geborstene Mauer empor, um zum höchsten Punkt der Turmruine zu gelangen. Pfeile zischten an ihr vorbei. Rund um den Turm lagen die Bogenschützen der Orks im hohen Gras verborgen. Doch Rialla vertraute darauf, daß es ihr nicht bestimmt sei, auf diese Art zu sterben.
Als sie schließlich den höchsten Punkt erreicht hatte, stieß sie ihren Kampfruf aus: »Für Rondra!«
Im selben Moment konnte sie sehen, wie sich die Bürgerstochter abstieß, um durch den Strom zu schwimmen. Wie eine Fahne aus Licht glänzte ihr langes blondes Haar im Wasser.
Ein gutes Ziel, dachte Rialla und beobachtete aufmerksam das hohe Gras um den Turm. Noch hatten die Bogenschützen der Orks allein sie im Visier. Dicht neben ihrem Kopf schlug ein Pfeil krachend ins Gemäuer. Geduldig suchte Rialla das wogende Gras mit ihren Blicken ab. Die Schwarzpelze benutzten Schutzwände aus geflochtenen Gräsern, um sich dahinter zu verstecken; es war daher nicht leicht, sie auszumachen. Kaum hatten sie einen Schuß abgegeben, verschwanden sie wieder hinter ihrer Deckung.
Da ertönte ein Hörn vom Fluß her. Ludara war entdeckt worden. Etliche Orks hasteten zum Ufer, und Rialla nutzte die Gelegenheit, ihren Köcher leer zu schießen. Doch vergebens. Die Orks schienen so zahlreich wie Sandkörner in der Wüste. Für jeden, den sie verletzte oder tötete, schienen sofort zwei neue zur Stelle zu sein.
Unruhig blickte sie zum Fluß. Noch war die Bürgerstochter nicht getroffen worden. Sie hatte die Hafenmauer erreicht, von der aus nun eine Abteilung von Lysandras Bogenschützen das Feuer der Orks erwiderte. Seile wurden für die Schwimmer herabgelassen.
Ludara knüpfte eine Schlinge und zog sie dem Jungen unter den Achseln hindurch. Dann wurde Marrad nochgezogen. Pfeile prasselten gegen die Mauer. Der Knabe hat Glück, dachte Rialla bei sich. Die Götter sind auf seiner Seite.
Dann kletterte auch die Bürgerstochter an einem Seil empor. Noch dichter wurde der Pfeilhagel der Orks, und schließlich hörte sie Ludaras Schrei. Zwei Pfeilschäfte ragten aus ihrem Rücken. Sie ließ das Seil los und stürzte in den Fluß.
Rialla blieb wie versteinert sitzen.
Warum? Hatten die Götter wirklich beschlossen, daß keiner der Rebellen überleben sollte?
Von unten erklang die Stimme Gernot Brohms und riß sie aus ihren Gedanken. Mittlerweile schossen die Orks sogar schon mit Katapulten. Surrend zischte ein Felsbrocken über sie hinweg. Ein zweiter traf krachend das Mauerstück, hinter dem sie kauerte. Die Steine unter ihren Füßen erzitterten, und Gernot rief ihr fluchend zu, sie solle gefälligst herunterkommen und ihr Leben nicht verschenken.
Doch noch immer starrte die Kriegerin in die braunen Fluten der Breite. Sie hoffte, den goldenen Haar schöpf Ludaras wieder zwischen den Fluten auftauchen zu sehen. Vergebens! Die Flußgeister schienen den toten Leib in ihre kühlen Arme umfangen zu haben.
Schließlich ließ Rialla alle Hoffnung fahren und stieg von ihrem unsicheren Ausguck herunter. Ihr Schild war mittlerweile gespickt von den Pfeilen der Schwarzröcke. Aus der Stellung der Orks erklang wieder das dumpfe Grollen der Kriegspauken, und während des gefahrvollen Abstiegs konnte die Kriegerin sehen, wie sich die Schwarzpelze zu einem neuen Sturmangriff sammelten.
Noch immer quoll dunkler Rauch aus dem Inneren des Turmes; Rialla konnte durch die Sohlen ihrer Stiefel spüren, daß das Feuer den Steinboden unter ihren Füßen erhitzte.
»Wenn wir den Abend noch erleben, mußt du mir verraten, durch welchen wundersamen Zauber man Pfeilen entgeht«, empfing Gernot die Bannerträgerin.
Sie grinste ihn breit an. »Zuerst lassen wir aber die Orks noch ein wenig nach der Melodie unserer Schwerter tanzen. Bist du bereit, vor die Götter zu treten?«
Der Patriziersohn war leichenblaß. »Nicht bevor ich noch ein paar Schwarzpelze zu Tairach geschickt habe.«
Rialla schlug ihm auf die Schulter. »Du wärst ein guter Kürassier geworden. Zuerst habe ich nicht viel von dir gehalten, aber in den letzten Tagen hast du wirklich Mut gezeigt.«
Der junge Mann lächelte gequält. Er war über und über mit Staub bedeckt, und sein Verband, dunkel von geronnenem Blut, flatterte lose um seinen Schildarm. »Ich habe Angst«, gestand er leise.