»Ich auch«, entgegnete Rialla, »doch eigentlich besteht dazu kein Anlaß. Angst ist etwas für die, die noch eine Zukunft haben. Deine einzige Sorge sollte jetzt sein, daß die Orks dich nicht lebend erwischen.«
Die Leitern der Schwarzpelze krachten mit dumpfem Ton gegen die Mauern, und die Kriegerin faßte ihr Schwert fester. Schulter an Schulter standen Rialla und Gernot in der Bresche, die wie eine tiefe Wunde in der Westflanke des Turmes klaffte.
Als die ersten Orks die beiden bestürmten, riß der dunkle Wolkenhimmel auf. Ein breiter Lichtstrahl hüllte den Turm in einen goldenen Schimmer. »Siehst du, Patrizier, das ist die Straße, auf der wir zu den Göttern gehen.« Rialla hieb mit ihrem Schwert auf den Schild des Orks vor ihr. Doch die Bresche in der Mauer war zu breit, als daß zwei allein sie hätten verteidigen können, und schon bald waren sie von den Kriegern des Sharraz Garthai umringt.
15
In der Abenddämmerung konnten Nyrilla und Arthag beobachten, wie die Orks auf Stangen die Köpfe der toten Verteidiger in ihr Hauptlager trugen. Auch wurden viele Böcke und Rotzen wieder vom Westufer der Breite abgezogen.
Wo sie wohl als nächstes zuschlagen werden? fragte sich Arthag. Den ganzen Tag über hatte er gemeinsam mit der Elfe von einer fernen Hügelkette aus den Untergang des Turmes beobachtet.
Jetzt würden sie nicht mehr lange warten müssen. Wenn Trommelschlag und Gesänge erst einmal von der Siegesfeier der Orks kündeten, würden sie ohne Gefahr durch den Fluß schwimmen können, um dann mit einem Seil über die Mauer in die Stadt zu gelangen.
So wie die Dinge standen, mußten sie vielleicht auch noch ein paar Stunden warten. Doch das war ihm nur recht, dachte Arthag. Lieber im kalten, feuchten Gras liegen, als schon wieder einen Fluß durchschwimmen. Schaudernd erinnerte er sich an das letzte Mal.
Arthag behielt recht. Ohne Schwierigkeiten konnten er und Nyrilla während der Siegesfeier durch die Linien der Orks schleichen. Erst den Wachen der Stadt, die aufmerksam über die Mauern patrouillierten, fielen sie auf. Als sie über die Zinnen geholt waren, wurden sie unverzüglich zur Garnison eskortiert, wo Marcian wie an jedem Abend mit seinen Offizieren versammelt war. Arthag schilderte, was er in Xorlosch über die Vergangenheit Greifenfurts erfahren hatte. Am Ende seines Berichts herrschte drückendes Schweigen. Man konnte an den Gesichtern der Männer und Frauen ihre Verzweiflung ablesen. Ein göttlicher Talisman des Tairach tief unter der Stadt und Hunderte, vielleicht sogar Tausende von Orks nur wenig mehr als einen Tagesmarsch südlich — das waren in der Tat schlechte Nachrichten.
Marcian fand als erster seine Stimme wieder. »Himgi, hole ein paar deiner Männer. Sie sollen schwere Hämmer mitbringen. Wir werden uns diesen Torturm noch heute nacht ansehen! Ihr anderen nehmt euch Fackeln von den Wänden und folgt mir.«
Marcian führte die Männer durch die Straßen der Stadt zum Henkersturm. Arthag schritt an seiner Seite.
Dort angekommen, musterte der Zwerg einige Stellen, wo durch die Treffer von Katapulten die Putzschichten abgebröckelt waren und das nackte Gemäuer bloßlag. Dann verkündete er so laut, daß es jeder in der Runde hören konnte: »Dieser Turm ist zwar von kundigen Arbeitern errichtet, aber ein Werk von Zwergen ist er nicht! Laßt uns zur ›Fuchshöhle‹ gehen!«
Der Fackelzug setzte sich in Bewegung. Am Fuß des Hügels vorbei, auf dem rund um den Platz der Sonne die Häuser der Patrizier lagen, waren es kaum mehr als hundert Schritt, bis zu dem Bordell, das der Magier Lancorian betrieb. Arthag hatte den blonden Zauberer nicht bei der Offiziersversammlung gesehen. Das konnte nur bedeuten, daß er im Lazarett lag. Nun, dann würde es jetzt auch keinen Ärger geben!
Die Brände, die während des Sturms auf die Stadt ausgebrochen waren, hatten die Mauern des Turms geschwärzt. Rund um das steil aufragende Gemäuer standen noch immer die Ruinen halb ausgebrannter Viehpferche und eines Stalles. Der Turm selber hatte keinen Schaden genommen. Mittlerweile war Himgi mit einigen Zwergen zu dem Trupp gestoßen. Seine bärtigen Gefährten hatten wuchtige Vorschlaghämmer geschultert. »Hier«, kommandierte Arthag und wies auf eine Stelle dicht beim Eingang. Krachend schlugen die Hämmer gegen das Gestein.
Schon als der Fackelzug den Turm erreicht hatte, waren die Lustknaben und Freudenmädchen des Etablissements neugierig herausgekommen. Ein Reigen schillernder Paradiesvögel, denn obwohl immer weniger Kunden die ›Fuchshöhle‹ besuchten, legten die Bewohner des Bordells all abendlich ihre Masken der Lust und Verführung an, so als befände sich die Stadt im Frieden.
Da waren die glutäugige, tätowierte Cara, die gleich lebendigen Armreifen sich windende Vipern zum Schmuck trug; der große, blonde Gunnar, der von sich selbst behauptete, aus Thorwal zu kommen, und mit Vorliebe schwarzes, mit Nieten beschlagenes Leder trug; die rätselhafte Mata, die mal als Mann, mal als Frau die ausgefallensten Wünsche ihrer Kunden erfüllte, und Moira, die vollbusige, blonde Schönheit, die es sich leisten konnte, auf exotische Requisiten zu verzichten, um ihren Liebhabern die Sinne zu verwirren. Sie alle und noch einige andere zogen aus dem Turm und sahen dem merkwürdigen Treiben mit ernsten Gesichtern zu. Doch niemand wagte es, sein Wort zu erheben.
Wieder und wieder schlugen die Hämmer gegen die Wand, bis ein großes Stück des Putzes herausgebrochen war.
»Haltet die Fackeln näher«, rief Arthag, als die Sappeure mit ihren Hämmern zurücktraten.
Argwöhnisch musterte der Zwerg die bloßgelegte Mauer, um schließlich zu verkünden: »Hier gibt es zwar Nachbesserungen, die weniger vollkommen ausgeführt sind, doch dieser Turm stammt mit Sicherheit von Handwerkern meines Volkes. Das ist allein schon daran zu erkennen, daß die Steine sauberer behauen sind und ein besserer Mörtel verwendet wurde als bei dem anderen Turm.«
Auch Himgi stimmte ihm brummend zu.
Nun richteten sich alle Blicke erwartungsvoll auf Marcian.
»Nun gut«, sagte der Inquisitor leise, um dann lauter fortzufahren. »Im Namen des Prinzen beschlagnahme ich dieses Gebäude. Wer auch immer hier wohnt, hat bis Sonnenaufgang Zeit, seine Habe zu packen. Danach darf die ›Fuchshöhle‹ nur noch mit meiner Genehmigung betreten werden.«
Die Huren schrien empört auf. Einige nannten Marcian lautstark einen Tyrannen. Andere bückten sich, um die Soldaten mit dem Schlamm der Straße zu bewerfen.
»Himgi, räum mit deinen Leuten den Platz, und sorge dafür, daß meine Befehle durchgeführt werden. Verhafte jeden, der Widerstand gegen meine Verfügung leistet.«
Marcian sprach nicht laut, doch schon bei seinen ersten Worten war es ruhig geworden. Die Bürger, die aus bloßer Neugier gekommen waren, zogen sich leise in die Sicherheit ihrer vier Wände zurück. Einige ältere Männer und Frauen hörte man sogar murmeln, daß es gut sei, daß dieser Sündenpfuhl nun endlich trockengelegt wurde.
Den meisten jedoch stand die Angst in den Gesichtern. Jene Zwerge waren es gewesen, die mit ihren schimmernden Äxten die Rebellion in der Garnison niedergeschlagen hatten.
Zu gut war den Bürgern noch in Erinnerung, welches Schicksal den Aufrührern widerfahren war, die der Kommandant in den Turm verbannt hatte. Und schon seit Tagen machte das Gerücht die Runde, Marcian habe gewußt, daß die Orks die Schanze am Fluß stürmen wollten. Ja, man munkelte, er habe nie die Absicht gehabt, Gnade walten zu lassen, und es lediglich den Belagerern überantwortet, sein Todesurteil zu vollstrecken. Schließlich fügten sich auch die Bewohner der ›Fuchshöhle‹ in ihr Schicksal. Murrend zogen sie sich in den Turm zurück und packten unter der Aufsicht von Himgis Soldaten ihre aufreizenden Kleider, den billigen Schmuck, die Parfüms und die Schminke, die bis dahin ihr Leben gewesen waren. Fast keiner von ihnen wußte, wohin er gehen sollte, denn trotz ihrer vielen intimen Bekanntschaften, die sie unter den Bürgern hatten, waren sie geächtet. Kaum jemand würde ihnen seine Tür öffnen. Von dieser Nacht an waren sie nicht nur ausgestoßen, sondern heimatlos.