Der Zwerg konnte sehen, wie die Orks auf den Flößen in seine Richtung auf das Wasser deuteten. Einige hantierten mit langen Speeren. Dann erreichte der vorderste Baumstamm die Posten. Mit den Speeren verhinderten die Schwarzpelze, daß der große Stamm gegen eines der Flöße prallte. Unter lauten Rufen bugsierten sie ihn in freies Fahrwasser. Dann trieb der Baum weiter. Von seinen Gefährten konnte Arhag nichts sehen. Sie mußten alle unter die Bäume getaucht sein.
Noch einmal holte der Zwerg tief Luft, dann tauchte er unter und klammerte sich wieder an die eisernen Griffe an der Unterseite des Stammes. Mit rasendem Herzen betete er zu Angrosch, daß sich der Stamm nicht drehen möge, wenn die Orks ihn mit ihren Speeren beiseite schoben. Auf Anraten einiger Schiffer waren mittags noch einige breite Äste an die Stämme genagelt worden, damit sie ruhig in der Strömung des Flusses lagen.
Wieder wurde das Kribbeln in den Lungen stärker. Doch Arthag spürte, wie die Schwarzpelze noch immer an dem Stamm hantierten, um ihn von ihren Flößen fernzuhalten. Er durfte jetzt auf keinen Fall aus dem Wasser tauchen. Er biß sich auf die Lippe. Das reißende Gefühl in seinen Lungen wurde langsam unerträglich. Da traf ihn ein schwerer Schlag an der Schulter. Der Zwerg unterdrückte einen Schmerzensschrei. Würde er jetzt den Mund öffnen, wäre es um ihn geschehen. Sein Baum mußte an einen Felsen unter der Wasseroberfläche gestoßen sein. Noch immer spürte er, wie die Schwarzpelze über ihm versuchten, den Stamm in sicheres Fahrwasser zu stoßen.
Der massige Baum begann sich langsam gegen die Strömung zu drehen. Wieder versetzte es Arthag einen Stoß. Sein Rücken schrammte über einen flachen Felsen, und die rauhe Rinde des Baumstamms drückte auf seine Brust. Er mußte loslassen, sonst würde er zwischen Stamm und Felsen zerdrückt werden. Ein neuer Schlag preßte ihm die Luft aus den Lungen. Arthags Hände glitten kraftlos vom Stamm.
Wirbelnd packte ihn der Fluß. Strampelnd gelang es dem Zwerg, den Kopf kurz über Wasser zu bringen und tief einzuatmen. Die Strömung riß ihn nun zwischen den Flößen hindurch. Noch immer waren die Orks mit dem verkeilten Stamm beschäftigt, und keiner schien ihn gesehen zu haben.
Erneut riß es Arthag unter Wasser. Ohne den Baum, an dem er Halt gefunden hatte, war er ein Spielball der Wellen. Immer öfter, wurde er unter die Wasseroberfläche gedrückt. Er hatte das Gefühl, Stunden um Stunden gegen das Wasser anzukämpfen, doch das konnte nicht sein, denn noch immer war es Nacht. Schließlich erlahmten seine Kräfte. Sein Widerstand wurde immer schwächer, und schließlich gab er auf zu kämpfen und ließ sich in die Dunkelheit treiben.
Trotz der Gefahr hatte Nyrilla ein kleines Feuer in der Nähe des Ufers entfacht. Von Blautann kauerte neben den Flammen. Während sie noch immer besorgt auf den Fluß hinausschaute, bereitete er ein Frühstück aus Bohnen und Speck.
Ungefähr eine Stunde mochte es nun her sein, daß sie das rettende Ufer erreicht hatten. Bald würde die Sonne aufgehen und noch immer war nichts von Arthag zu sehen. Ihr war ein Rätsel, wo der Zwerg abgeblieben war. Selbst wenn er in der Strömung den Halt verloren hatte und ertrunken war, so hätte doch zumindest sein Baum auf dem Fluß vorbeitreiben müssen.
»Ich glaube, den können wir abschreiben.« Der Oberst hatte sich zu der Elfe umgedreht. »Ich hab doch gleich gesagt, daß es ein Fehler war, einen Zwerg ins Wasser zu werfen.« Geistesabwesend führte er in der Pfanne auf dem Feuer. Dann murmelte er etwas leiser: »Es tut mir ja auch leid um den kleinen Eisenbeißer. Kanntet ihr euch schon lange?« »Wir haben uns in Greifenfurt kennengelernt«, log Nyrilla. »Wir waren alle fremd in der Stadt, als wir von der Rückeroberung überrascht wurden; so etwas bringt einen näher. Vor allem, nachdem alle Fremden auf die Burg eingeladen wurden, weil sie dort angeblich besser aufgehoben seien.« Die Elfe hatte die letzten Worte voll geheucheltem Sarkasmus ausgesprochen.
Der junge Oberst sollte nicht wissen, daß seine Reisegefährten im Dienst der Kaiserlich Garethischen Informations-Agentur standen. Um dieses Geheimnis zu wahren, war es besser, nicht all zu freundschaftlich miteinander umzugehen. Nyrilla blickte auf den Fluß. Dieses Intrigenspiel gefiel ihr von Tag zu Tag weniger.
Nachdem sie einige warme Bohnen und reichlich feuchtes Brot zu sich genommen hatten, löschte von Blautann das Feuer und machte sich zum Aufbruch bereit. Während er seine Kleider überstreifte, die neben dem Feuer getrocknet waren, stand die Elfe noch immer am Ufer und blickte nach Norden.
Das angeblich wasserdichte Tuch, in das ihre Ausrüstung eingenäht war, hatte sich als nicht annähernd so wasserabweisend erwiesen, wie die Greifenfurter Fischer behauptet hatten. Die ganze Ausrüstung war kalt und feucht gewesen, als der Oberst sie aus den unter die Bäume genagelten Tuchsäcken geholt hatte. Ein Beutel mit Lebensmitteln war verschwunden. Vermutlich hatte ein Fels ihn abgerissen.
Über eine Stunde hatten die beiden sich auf den Rücken der Baumstämme festgeklammert und waren durch das eisige Wasser getrieben, ohne eine Möglichkeit zu finden, an Land zu gelangen. Sie hatten die Hoffnung fast schon aufgegeben, als sie schließlich eine schmale Landzunge entdeckten, die vom Hochwasser noch nicht überflutet war. Mit letzter Kraft hatten sie ihre Baumstämme dort herüber gelenkt und auf den Zwerg gewartet.
Doch nun schien keine Hoffnung mehr zu bestehen, daß er sie noch erreichen würde. Sie konnten es sich nicht leisten, noch länger zu warten. Falls Arthag den Orks in die Hände gefallen sein sollte, mußten sie sich beeilen, denn dann hätten die Schwarzpelze mit Sicherheit schon Späher ausgeschickt, um nach anderen Booten aus Greifenfurt zu suchen.
»Kommst du, Nyrilla?« Der Oberst hatte das Lager abgebrochen und mühte sich bereits die schlammige Uferböschung hinauf.
Mit einem Seufzer folgte ihm die Elfe. Sie wollte einfach nicht glauben, daß der Zwerg tot sei, denn dann wäre ihre Aufgabe bereits gescheitert. Sie hatte mit ihm zu den Ingra-Kuppen ziehen sollen, in jenes Gebirgsmassiv, in dem das geheimnisvolle Xorlosch lag, die älteste Stadt des Zwergenvolks. Allein würde man sie dort niemals hinlassen. War es doch nicht einmal sicher gewesen, ob sie Arthag, der in den Augen der Erzzwerge, die die Geheimnisse dieser uralten Stadt hüteten, vermutlich nicht mehr als ein Herumtreiber aus dem verräterischen Volk der Amboßzwerge war, Zutritt zu diesem heiligen Ort gewährt hätten.
Mit Händen und Füßen im weichen Schlamm erklomm Nyrilla die Uferböschung. Es hatte angefangen zu regnen. Wie ein Schleier legte sich der Nieselregen über die Landschaft.
Während der Oberst auf ein Waldstück zumarschierte, das sich östlich von ihnen im Regen abzeichnete, blieb Nyrilla stehen.
»Wartet!« rief sie mit gedämpfter Stimme ihrem Gefährten hinterher. »Was ist los?« Der Oberst wischte sich mit der Hand das Wasser von der Stirn. »Können wir nicht im Schutz des Waldes reden, da werden wir vielleicht etwas weniger naß als hier.«
»Ich werde dich verlassen. Ohne Arthag werde ich nicht in die Zwergenstadt gelangen, also suche ich mir meinen Zwerg, und wenn ich dafür an Borons Pforten klopfen muß.«
Alrik war einigermaßen überrascht, eine Elfe über die Götter reden zu hören, auch wenn ihr Tonfall durchaus typisch für dieses gottlose Volk war. Ihr Vorhaben erschien ihm als blanker Unsinn, und gereizt entgegnete er: »Willst du vielleicht den Fluß wieder hinauflaufen? Einfacher kannst du es den Orks kaum machen ... Vielleicht willst du dich auch gleich stellen?«
»Sollten sie meine Spuren finden, werden sie vielleicht erst gar nicht nach dir suchen.« Der Tonfall der Elfe ließ nicht darauf schließen, was in ihrem Inneren vor sich ging. Kühl musterte sie den Oberst.