Christie lächelte.»Niemand wird ihn heute abend treffen. Er befaßt sich mit diesen Angelegenheiten nur, um alte Schulden zu bezahlen und um sein Süppchen am Kochen zu halten. «Er winkte einem Dienstmann.»Amüsieren Sie sich gut, Sie haben es verdient, obwohl ich glaube, Sie wären lieber in London, oder?»
Bolitho grinste.»Nicht in London, Sir.»
«Natürlich. «Der Admiral sah den Dienstmann mit seinem Hut und Mantel herankommen.»Ein Sohn der Erde. Das hatte ich vergessen. «Mit einem Nicken verschwand er durch die Tür und war schnell in den tiefen Schatten auf dem Rasen verschwunden.
Bolitho fand einen freien Platz am Ende des Tisches und versuchte sich schlüssig zu werden, was er essen sollte. Er mußte etwas essen, denn der Wein wirkte zu stark. Er fühlte sich ungewöhnlich leicht und beschwingt, daran war aber nicht nur der Wein schuld. Indem er ihn sich selbst überließ, hatte der Admiral ihm die Möglichkeit gegeben, zu handeln und zu denken, wie er wollte. Er konnte sich nicht daran erinnern, daß dies jemals vorher geschehen war.
Ein gedrungener Korvettenkapitän mit vor Hitze und Wein fleckigem Gesicht drängt sich an ihm vorbei und schnitt sich ein enormes Stück Pastete ab, das er zu verschiedenen anderen Sorten kalten Fleisches auf seinen Teller häufte, ehe ein Diener ihm helfen konnte. Bolitho dachte an Bethune. Dieser Teller hätte selbst dessen Appetit für einige Tage befriedigt.
Der ältere Kapitän drehte sich um und blickte ihn an.»Ah.
Welches Schiff?»
«Sparrow, Sir. «Bolitho sah, daß er schielte, als ob er eine Vision ve rtreiben müßte.»Nie von ihr gehört. «Er runzelte die Stirn.»Wie heißen Sie, eh?»
«Richard Bolitho, Sir.»
Der Kapitän schüttelte den Kopf.»Auch noch nie von Ihnen gehört. «Er watschelte in die Menge zurück und schmierte dabei etwas Pastete an einen Pfosten, ohne auch nur stehenzubleiben.
Bolitho lächelte. In dieser Umgebung wurde man sich bald der wirklichen Bedeutung seines Ranges bewußt.
«Nanu, Kapitän!«Die Stimme ließ ihn herumfahren.»Er ist es! Ich wußte einfach, daß Sie es sind!»
Bolitho starrte das Mädchen einige Sekunden an, ohne es wiederzuerkennen. Sie war hübsch, hübscher noch, als er sie seit dem lange zurückliegenden Tag in Erinnerung hatte: als sie sich gegen ihren Onkel, General Blundell, gewandt hatte, schrie und mit den Füßen strampelte, als seine Männer sie buchstäblich von Bord des Indienfahrers trugen, vor seinem Kampf mit der Bonaventure.
Und doch war sie dieselbe geblieben. Das Lächeln, halb amüsiert, halb spöttisch. Die violetten Augen, die ihn machtlos machten, in einen sprachlosen Bauern verwandelten.
Sie wandte sich an einen hochgewachsenen Offizier an ihrer Seite, im grünen Rock der Dragoner, und sagte:»Er war so jung, so ernst, ich glaube, alle Damen an Bord verliebten sich in den Ärmsten.»
Der Dragoner sah Bolitho kalt an.»Wir müssen uns beeilen, Susannah. Ich möchte, daß du den General kennenlernst. «Sie streckte den Arm aus und legte eine weißbehandschuhte Hand auf Bolithos Rockaufschlag.
«Ich freue mich, Sie wiederzusehen. Ich habe oft an Sie und Ihr kleines Schiff gedacht. «Ihr Lächeln erlosch, und sie wurde plötzlich ernst.»Sie sehen gut aus, Kapitän. Sehr gut. Vielleicht etwas älter. Ein bißchen weniger wie… «Das Lächeln kam wieder.»Wie ein als Mann verkleideter Junge.»
Er errötete, war sich aber dessen bewußt, daß das Vergnügen seine Verwirrung übertraf.
«Nun, ich nehme an…»
Aber sie hatte sich schon wieder umgewandt, als zwei weitere Begleiter aus der Menge auf sie zukamen.
Dann schien sie sich zu entscheiden.
«Werden Sie mit mir essen, Kapitän?«Sie betrachtete ihn nachdenklich.»Ich möchte Ihnen einen Diener mit der Einladung schicken.»
«Ja. «Die Worte platzten heraus.»Das würde ich sehr gern tun Danke.»
Sie machte einen Knicks und brachte damit die Erinnerung an ihr erstes Zusammentreffen schmerzhaft in sein Gedächtnis zurück.»Also abgemacht.»
Die Menge wogte hin und her und schien sie vollständig zu verschlucken.
Bolitho nahm sich noch einen Becher Wein und ging unsicher auf den Rasen zu.»Susannah «hatte der Dragoner sie genannt. Dieser Name paßte wunderbar zu ihr.
Er blieb neben dem Springbrunnen stehen und starrte mehrere Minuten hinein. Der Empfang war also doch noch ein Erfolg geworden, und der Vormittag schien ihm nur noch eine fade Erinnerung zu sein.
Herzdame
Drei Tage nach dem Empfang beim Gouverneur war die Sparrow wieder seeklar. Bolitho hatte sie genau inspiziert und unter Locks argwöhnischen Blicken eine endgültige Liste der Vorräte und Lagerbestände unterzeichnet. Die letzten drei Tage waren ohne besondere Ereignisse vorübergegangen, und Bolitho fand es leichter, die offensichtliche Lethargie New Yorks zu verstehen, wenn nicht sogar zu teilen. Es war eine unwirkliche Existenz, den Krieg nur am Ende einer Marschkolonne von Soldaten zu sehen oder in einer Verlustenliste in der Zeitung.
Die andere übriggebliebene Korvette der Flotte, Heran, hatte kürzlich auch in Sandy Hook Anker geworfen und erwartete nun eine ähnliche Überholung.
An diesem Vormittag saß Bolitho in seiner Kajüte und genoß ein Glas guten Bordeaux mit dem Kommandanten der Heran, Thomas Farr. Bei ihrem letzten Zusammentreffen war er noch Leutnant gewesen, aber Maulbys Tod hatte ihm die wohlverdiente Beförderung gebracht. Er war für seinen Rang recht alt, ungefähr zehn Jahre älter als Bolitho. Ein großer, breitschultriger Mann, ungeschlacht und mit einer etwas drastischen Ausdrucksweise, die an Tilby erinnerte. Er war zu seiner jetzigen Ernennung auf vielen Umwegen gekommen. Als achtjähriger Junge zur See geschickt, war er die meiste Zeit seines Lebens auf Handelsschiffen gefahren — Küstensegler und Postschiffe, Indienfahrer und kleinere Schiffe —, schließlich hatte er das Kommando über eine Kohlenbrigg aus Cardiff bekommen. Da England in den Krieg verwickelt war, hatte er seine Dienste der Marine angeboten und war gerne angenommen worden. Wenn ihn auch seine Manieren und seine Bildung von den anderen Offizieren unterschieden, so waren seine Erfahrung und seine Geschicklichkeit beim Segeln ihnen weit überlegen. Eigenartigerweise war die Heran kleiner als die Sparrow und hatte wie ihr Kommandant in der Handelsschiffahrt begonnen. Daher war auch ihre Bewaffnung von vierzehn Geschützen schwächer. Sie hatte aber trotzdem schon einige gute Prisen genommen.
Farr räkelte sich auf der Heckbank und hob sein Glas zum Sonnenlicht.
«Verdammt guter Tropfen! Wenn ich aber einen Krug voll englischem Bier hätte, könnten Sie das gegen die Wand spucken!«Er lachte und gestattete Bolitho, ihm noch ein Glas einzuschenken.
Bolitho lächelte. Wie sich die Dinge für sie alle geändert hatten!
Wenn er sich zurückerinnerte an den Augenblick in Antiguo, als er zum Treffen mit Colquhoun ging, war es schwierig, sich ins Gedächtnis zu rufen, wie die Jahre und Wochen sie alle beeinflußt hatten. Damals, als er aus Colquhouns Fenster gesehen hatte, lag vor ihm die ganze Flotte, und er hatte sich gefragt, wie wohl sein neues Kommando sein würde. Viele andere Zweifel und Befürchtungen hatten ihn an diesem Morgen geplagt.
Jetzt gab es die Fawn nicht mehr, und die Bacchante war erst gestern ausgelaufen, um zu der Flotte unter Rodney zu stoßen. Ihr neuer Kapitän stammte vom Flaggschiff, und Bolitho fragte sich, ob Colquhoun wohl die Möglichkeit gehabt hatte, von seiner Arrestzelle aus zu sehen, wie sie die Anker lichtete.
Jetzt waren nur noch Sparrow und Heran übrig. Natürlich abgesehen von dem kleinen Schoner Lucifer, der eine Klasse für sich war. Er würde weiterhin kleine Küstenpatrouillen machen oder auch in Buchten und Flußläufe vorstoßen, um Blockadebrecher aufzustöbern.