Sie saßen an einem für Neuankömmlinge reservierten wackligen Holztisch. Orry sah jedoch, daß gewisse neue Kadetten an andern Tischen mit den Senioren saßen. Er konnte sich dies nur damit erklären, daß jene Dinger schon am Vortag angekommen sein mußten. Diejenigen aus der obersten, d. h. der vierten Klasse, hatten die besten Plätze am Ende der Tische. An den Seiten saßen diejenigen aus der dritten Klasse, dann kamen diejenigen aus der zweiten Klasse und dann die Junioren. Schließlich, genau in der Mitte der Seitenteile – am weitesten vom Essen entfernt –, saßen die nervösen Neuankömmlinge, die Orry beobachtete. Die Senioren gaben verächtliche Kommentare über sie ab und reichten die Schüsseln nur langsam weiter. Orry war dankbar, daß er sich für heute abend nicht an einem jener Tische befand.
Jemand hatte gesagt, daß das Mittagessen die Hauptmahlzeit sei. Folglich gab es zum Abendessen die üblichen Armeereste: Steak und Dampfkartoffeln. Doch George und Orry waren so hungrig, daß es ihnen nichts ausmachte. Abgesehen davon gab es noch Leckerbissen wie hausgemachtes Brot, Landbutter und starken Kaffee.
Als alle fertig gegessen hatten, gab der Hauptmann den Befehl, aufzustehen. Die Kadetten und die Neuankömmlinge marschierten unter Pfeifen- und Trommelklang zu ihren Unterkünften zurück. George und Orry breiteten ihre Decken auf den Eisenbetten aus. Georges düstere Blicke schienen zu fragen, weshalb sie an diese Stätte der Abgeschiedenheit und der Disziplin gekommen waren.
In der Zeit bis zum Zapfenstreich kamen einige Senioren vorbei, um sich vorzustellen. Einer, ein baumlanger Kerl namens Barnard Bee, stammte aus South Carolina, worüber sich Orry sehr freute. George wurde von einem Kadetten aus seinem Heimatstaat begrüßt, Winfield Hancock.
Die meisten Neuankömmlinge waren in der Südkaserne untergebracht. George und Orry lernten an jenem Abend noch mehrere junge Männer kennen. Einer war ein gescheiter, redegewandter Kerl aus Philadelphia, der sich als George McClellan vorstellte.
»Gehört zu den oberen Zehntausend«, bemerkte George, nachdem McClellan gegangen war. »Jeder in Ostpennsylvania kennt die Familie. Man sagt, er sei intelligent. Vielleicht sogar ein Genie. Er ist erst fünfzehn.«
Orry hörte auf, sein Konterfei im Spiegel über dem Waschbecken zu betrachten. Er hatte bereits Befehl erhalten, die Haare schneiden zu lassen. »Fünfzehn? Wie ist das möglich? Man muß doch mindestens sechzehn sein, um hierherkommen zu können.«
George sah ihn zynisch an. »Nicht, wenn man Beziehungen in Washington hat. Mein Vater sagt, daß mächtig politischer Druck ausgeübt wird, damit gewisse Leute zugelassen werden. Und auch, damit sie hierbleiben können, wenn sie ihre Pflichten nicht erfüllen oder in Schwierigkeiten geraten.«
Etwas später kamen noch zwei Neuankömmlinge herein. Der eine war ein mittelgroßer, elegant gekleideter junger Mann aus Virginia namens George Pickett, der oft lächelte und dunkles, glänzendes, bis auf die Schultern fallendes Haar hatte. Pickett sagte, er sei aus Illinois einberufen worden, wo er im Advokaturbüro seines Onkels als Sekretär gearbeitet habe, weil Virginia keine weiteren Plätze mehr für West Point vergeben durfte. Pickett schien noch weniger von den Zulassungsbestimmungen zu halten als George. Sie mochten ihn sofort wegen seiner frischen Art.
Der zweite stammte ebenfalls aus Virginia, doch Picketts Begeisterung schien etwas gezwungen, als er ihn vorstellte. Vielleicht hatte Pickett mit dem großen, merkwürdigen Kerl Bekanntschaft geschlossen und bereute das jetzt. Zwischen George Pickett aus Fauquier County und dem neuen Kadetten aus Clarksburg bestand ein wesentlicher Unterschied. Natürlich konnte man den äußersten Westzipfel des Staates kaum noch als dem Süden zugehörig betrachten, denn in dieser gebirgigen Gegend wohnten eher primitive Leute, die kaum des Lesens und Schreibens mächtig waren.
Tom Jackson, wie er sich nannte, konnte seine Herkunft nicht verleugnen. Seine Haut war fahl, seine lange dünne Nase sah aus wie eine Messerklinge. Die Intensität seiner blaugrauen Augen machte Orry nervös. Jackson versuchte sich ebenso lustig wie Pickett zu geben, doch sein mangelhaftes Benehmen war allen höchst unangenehm.
»Mit seiner Visage sollte er Priester werden und nicht Soldat«, sagte George, als er die Kerze ausblies. »Er sieht aus, als ob er sich über irgend etwas Sorgen machte. Vielleicht hat er Magenschmerzen oder Darmkrämpfe. Na ja, was macht’s schon. Er wird es ohnehin nicht lange aushalten.«
Orry fiel fast aus dem Bett, als jemand die Tür aufstieß und mit Stentorstimme schrie:
»Und Sie, Sir, werden es nicht einmal halb so lange aushalten, wenn Sie zu bestimmten Zeiten nicht geziemend schweigen können, Sir! Gute Nacht, Sir.« Die Tür fiel krachend ins Schloß. Sogar in Ruhezeiten konnte man dem System, das heißt den Senioren, nicht entkommen.
Schon vor Tagesanbruch rief die Trommel wieder. Der nun folgende Morgen war merkwürdig und unangenehm. Ein Leutnant aus Kentucky schmiß all ihre Decken auf den Boden und gab ihnen Anweisungen, wie man das Bettzeug auf korrekte Art und Weise zu falten und das Zimmer vor der Inspektion in Ordnung zu bringen hatte. George kochte vor Wut, aber es hätte noch schlimmer sein können. Ein Neuankömmling im Nebenzimmer erhielt Besuch von zwei Unteroffizieren vom Dienst; der eine stellte den anderen als Barbier vor. Der vertrauensselige Neue überließ sich Rasierklinge und Schere. Als Orry ihn das nächste Mal sah, war er kahlgeschoren.
Nicht alle Senioren waren darauf erpicht, die Neuen zu schikanieren. Einige boten sogar ihre Hilfe an. Kadett Bee meldete sich freiwillig bei seinen Zimmergenossen, um ihnen beim Lernen des Lehrstoffes zu helfen, den sie für die Eintrittsprüfung beherrschen mußten – Lesen, Schreiben, Orthographie, Bruch- und Dezimalrechnen.
George bedankte sich bei Bee, meinte jedoch, daß er ohne seine Hilfe bestehen würde. Orry nahm das Angebot dankbar an. Er hatte seit jeher nicht zu den besten Schülern gezählt, hatte ein schlechtes Gedächtnis und machte sich keine Illusionen. George hielt es nicht einmal für nötig, viel zu büffeln, sondern verbrachte seine Morgenstunden damit, den weniger feindlich gesinnten Senioren Fragen zu stellen. Dabei entdeckte er einiges, was ihm riesige Freude bereitete.
Er erfuhr, daß ein Bootsmann regelmäßig zu einem geschützten Ort am Ufer im unteren Tal ruderte und dort Kadetten erwartete, die Bettzeug oder Schmuggelware bei sich führten. Unter den illegalen Gütern befanden sich Kuchen, Whiskey und – Gott sei Dank – Zigarren. George hatte schon mit vierzehn zu rauchen angefangen.
Noch erfreulicher war die Nachricht, daß das ganze Jahr über im ›Roe‹-Hotel junge Mädchen abstiegen. Frauen jeden Alters schienen alle von derselben Krankheit befallen zu sein – boshafterweise ›Kadettenfieber‹ genannt. Das vierjährige Exil würde für George also nicht ganz so hart sein.
Zwar wußte er, daß er mit der Disziplin Mühe haben würde, doch die von der Akademie gebotene Ausbildung war als sehr gut bekannt. Und er würde die Vorschriften zu umgehen wissen. Sein Zimmergenosse gefiel ihm einigermaßen. Sogar ganz gut. Er legte nicht halb so viel Wert auf die Familie, wie das einige der Südstaatler, die er beobachtet hatte, taten. In weniger als einem Tag hatten viele von ihnen und auch viele Yankees Bekanntschaft geschlossen und sich in kleinen Gruppen gefunden.
Nach dem Mittagessen rief die Trommel zum Exerzieren. George freute sich einen Augenblick lang, als er sich zu seinem Zug auf der Straße gesellte. Doch jegliches Hochgefühl verging ihm, als er den Ausbilder sah. Der Kerl mußte mehr als 100 Kilo schwer sein. Unter seiner Uniform zeichnete sich der Ansatz eines Wanstes ab. Er hatte schwarzes Haar, listige, dunkle Augen, und sein Gesicht nahm in der Sonne eine eher rote als braune Tönung an. Er mochte etwa achtzehn oder neunzehn Jahre alt sein. Er erinnerte George an ein Mastschwein oder an einen Dickhäuter und war ihm auf Anhieb unsympathisch.