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Brett lehnte am Fenster und spähte in die Dunkelheit hinaus. Plötzlich zuckte sie zurück; ihr Gesicht war schneeweiß.

»Ich habe eben einen Mann vorbeigehen sehen. Er trug ein Gewehr.«

»Glaub’ ich nicht.«

Er stellte sich neben sie und blickte hinaus. In der Ferne war undeutlich der schwache Lichtschein einiger Lampen zu erkennen. Der Anblick von Zeichen der Zivilisation erleichterte Orry. Plötzlich umschloß eine kräftige Hand von hinten seine Schulter.

Er wirbelte herum, bereit zuzuschlagen. Es war bloß der Schaffner.

»Bitte, Sir, steigen Sie aus.« Der Mann war in Panik und bettelte Orry förmlich an. »Ich bin der Vertreter dieser Eisenbahn. Meine Name ist Phelps. Ich bin für die Passagiere verantwortlich. Bitte tun Sie, was ich sage, bis wir die Erlaubnis zur Weiterfahrt bekommen.«

»Erlaubnis? Von wem?« Orrys Stimme klang nun hellwach.

»Von den bewaffneten Männern draußen. Die Station ist unter ihrer Kontrolle. Sie sagen, sie hätten auch das Bundesarsenal und Hall’s Gewehrfabrik besetzt. Ich habe den Eindruck, daß sie zum äußersten entschlossen sind.«

Von irgendwoher knallte ein Gewehrschuß. Brett stieß entsetzt einen leisen Schrei aus und blickte sich dann im Wagen um. »Alle andern sind ausgestiegen. Wir sollten tun, was der Herr sagt.«

Orrys Mund fühlte sich trocken an. Er war angespannt und instinktiv in Alarmbereitschaft, wie dies oft in Mexiko der Fall gewesen war. Er folgte Phelps bis zum Kopfende des Wagens und stellte erst dann die naheliegende Frage:

»Wo sind wir?«

»In Harpers Ferry. Der letzte Halt in Virginia, bevor wir den Fluß an der Grenze zu Maryland überqueren.«

Es war grotesk. Ein Melodrama wie aus einem Groschenheft, das mitten in der Nacht, aus bis jetzt noch unverständlichen Gründen, inszeniert wurde. Und doch hing Angst in der Luft. Brett ging hinter Orry her und umklammerte seine Hand, als er Phelps in die feuchte, kühle Dunkelheit hinaus folgte.

Als er die Eisenstufen hinunterkletterte, schaute er sich um. Vom Holzdach des Bahnsteigs baumelten Lampen. In ihrem Lichtkegel standen fünf bewaffnete Männer, vier Weiße und ein Schwarzer. Auf der rechten Seite des Bahnsteigs trieben weitere Männer mit Revolvern und Gewehren die Reisenden wie eine Viehherde in ein kleines, schäbiges Gebäude ganz in der Nähe des Bahnsteigs.

Zu seiner Linken konnte Orry eine weitere Gestalt erspähen. Sie lag rücklings auf einem leeren Karren. Ein Gepäckträger, vermutete Orry. Seine Uniform war blutbefleckt.

Orry half seiner Schwester über die letzten Stufen und ging dann vor. Phelps wandte sich an die bewaffneten Männer.

»Ich will wissen, wann Sie diesem Zug die Weiterfahrt erlauben.«

Trotz der entschlossenen Worte war die Stimme des Schaffners brüchig. Der Schwarze klemmte das Gewehr unter den Arm, ging auf Phelps zu und schlug ihm die Faust ins Gesicht.

»Du hast überhaupt nichts zu wollen, Mister.«

Der Schaffner rieb sich die Backe. »Ist Ihnen bewußt, welche Strafe auf die Beeinträchtigung der Bundespost aussteht? Wenn wir eine Nachricht dieser Brutalität nach Baltimore telegrafieren – «

Einer der Weißen unterbrach ihn. »Alle Verbindungen sind unterbrochen. Gehen Sie, löschen Sie das Licht in sämtlichen Eisenbahnwagen und bleiben Sie dann mit allen andern dort. Sie haben die Wahl zwischen dem Bahnhof und dem Hotel nebenan.« Bei dem Hotel handelte es sich offensichtlich um das kleine, schäbige Gebäude.

»Was zum Teufel geht hier vor sich?« sagte Orry.

Der Mann mit dem Gewehr blickte ihn scharf an.

»Südstaatler, was? Du hältst besser den Mund, sonst laß ich meine Niggerjungen los. Sie hätten sicherlich nichts dagegen, mit dir ein Hühnchen zu rupfen.«

Orry legte den Arm um Bretts Schultern und führte sie über den Bahnsteig zum Hotel. Auf einem kleinen Schild war ›Wager House‹ zu lesen.

Bretts Gesichtszüge waren angespannt, ihre Augen schienen riesengroß. »Was ist los, Orry? Ist dies ein Raubüberfall?«

»Wahrscheinlich.« Er hatte keine andere Erklärung.

Beim Hoteleingang stand ein junger Mann mit einem Gewehr Wache. In der Halle schluchzte eine Frau, und ein Mann versuchte ihr mit nervöser, aber eindringlicher Stimme klarzumachen, daß sie ihr Korsett lockern und sich beruhigen solle. Brett stolperte an der Tür, und die erschrockene Wache, die offensichtlich einen Angriff befürchtete, versetzte ihr einen Stoß.

Brett taumelte gegen eine Fensternische. Orry fluchte und ging auf die Wache los. Der Mann trat zurück und hob das Gewehr.

»Noch einen Schritt und Sie werden Baltimore nie sehen.«

Orry stand mit geballter Faust still.

»Laß das Gewehr, Oliver. Wir haben keinen Streit mit diesen Menschen.«

Die tiefe, klangvolle Stimme gehörte einem großen Mann mittleren Alters, der aus der Dunkelheit des Bahnsteigs aufgetaucht war. Er trug ein Farmerhemd, alte Kordhosen und schmutzige Stiefel. Sein weißer Bart war kurz geschnitten. Sein schroffes Gesicht kam Orry bekannt vor, und doch wußte er nicht sofort, wer der Mann war.

Der junge Mann hielt das Gewehr immer noch schußbereit.

»Oliver«, sagte der Bärtige.

»Schon gut, Pa.« Er senkte das Gewehr. Der Kolben schlug sanft auf dem Boden auf.

Orry starrte den Mann mit dem Bart an. »Sind Sie für diese Raufbolde verantwortlich?«

Mit übertriebener Höflichkeit antwortete der Mann: »Seien Sie sorgfältig mit Ihren Worten, Sir. Vor Ihnen steht der Oberbefehlshaber der Provisorischen Regierung der Vereinigten Staaten. Mein Name ist Brown.«

Natürlich. Brown aus Osawatomie. Orry erinnerte sich daran, das Gesicht in Zeitschriften gesehen zu haben, aber der Bart war auf den Bildern viel länger gewesen. Hatte er ihn gestutzt, in der Hoffnung, nicht so leicht erkannt zu werden?

Browns blaue Augen blickten eiskalt. »Mein Sohn hatte nicht die Absicht, der jungen Dame etwas zu tun; er hat sich bloß selbst schützen wollen. Es ist klar, daß die Wellen bei einem Unterfangen dieser Tragweite manchmal etwas hochschlagen.«

»Unterfangen?« gab Orry hämisch zurück. »Verdammt komischer Name für einen Zugüberfall!«

»Sie beleidigen mich, Sir. Wir sind keine Diebe. Ich bin aus Kansas gekommen, um alle Neger dieses Staats zu befreien.«

Obwohl Brown mit ruhiger Stimme sprach, glaubte Orry in dem durchdringenden Glimmen seines Blickes eine Spur von Wahnsinn zu entdecken. Er mußte an Virgilia denken. War dies ihr revolutionärer Messias?

»Sie sind also der Anführer einer Revolte?« fragte er Brown.

»In der Tat. Ich bin bereits im Besitz des Arsenals der Vereinigten Staaten. Und hier wird kein Zug mehr durchgelassen. Gehen Sie hinein und verhalten Sie sich ruhig, bis ich beschlossen habe, was hier geschehen soll. Sollte sich irgend jemand einmischen, werde ich die Stadt niederbrennen lassen, und es wird zu Blutvergießen kommen. Haben Sie mich verstanden?«

Orry nickte grimmig. Dann hielt er Brett den Arm hin und führte sie in die Hotelhalle, wo er ihr einen Platz anbot.

Ein kleiner Junge fing an zu weinen und wurde von seiner Mutter auf den Schoß genommen. Ein Mann rieb seiner schniefenden Ehefrau die Hände. Orry zählte die Passagiere, die in der Hotelhalle herumsaßen oder -standen: Er kam auf achtzehn.

Gegenüber der Tür, durch die sie hereingekommen waren, befand sich eine weitere, die auf die Straße hinausging. Sie stand halb offen, und ein weiterer von Browns Männern war zu erblicken, ein Neger, der langsam mit einem Marinerevolver in der Hand auf und ab marschierte. Orry sah, daß er Farmerschuhe und eine abgewetzte, viel zu kurze Hose trug.

Orry setzte sich neben Brett und rieb sich das Knie. John Brown hatte offensichtlich Sklaven oder ehemalige Sklaven um sich geschart. Alte Kindheitsängste stiegen in Orry auf.

Phelps streckte den Kopf zur Tür herein und sagte: »Ich versuche mit Captain Brown darüber zu verhandeln, ob der Zug mit den Postsendungen weiterfahren kann. Bitte bewahren Sie Geduld und Ruhe!« Daraufhin entfernte er sich.