Eine Uhr tickte laut hinter dem Empfangsschalter. Der Knabe weinte immer noch. Orry gähnte. Er dachte an die Augen von John Brown, und zum erstenmal glaubte er Senator Seward, der von einem nicht zu unterdrückenden Konflikt gesprochen hatte.
Er schrak auf, als Brett ihm etwas zuflüsterte: »Orry, der Mann dort beobachtet uns.«
»Welcher Mann?«
»Der Wachtposten, draußen.«
»Der Sohn von Brown?«
»Nein, der andere; der Neger. Da ist er wieder.«
Orry blickte auf. Eine Katastrophe war offensichtlich noch nicht genug!
Draußen huschte ein schwarzes Gesicht vorbei; es war ein schönes, aber von Sorge und Hunger gezeichnetes Gesicht. Orry hatte es unten am Ashley schon gesehen und hätte es überall wiedererkannt.
»Grady«, flüsterte er und ging raschen Schrittes zur Tür.
Grady trat zurück, als Orry herauskam und die Tür hinter sich schloß. Auf den Hügeln waren einige schwache Lichter im Dunst zu erkennen, aber die Stadt war beinahe nicht zu sehen.
»Grady, erinnerst du dich nicht an mich?«
»Natürlich erinnere ich mich, Mr. Main.« Er spannte den Revolver. »Bleiben Sie lieber dort stehen. Captain Brown hat gesagt, wir sollen schießen, falls jemand Schwierigkeiten macht.« Es hörte sich an, als wünschte er nichts sehnlicher als das.
»Wie viele seid Ihr?« Orrys Atem bildete in der kühlen Nachtluft kleine Nebelwölkchen.
»Achtzehn« antwortete Grady rasch. »Dreizehn weiße Männer, und der Rest Neger.«
»Wie um Himmels willen habt Ihr einen solchen Plan ausarbeiten können?«
»Captain Brown; er hat es schon seit langem geplant. Wir leben nun schon seit einer Weile auf der andern Seite des Flusses in einem gemieteten Farmhaus. Wir werden von Chambersburg aus mit Nahrungsmitteln und Gewehren versorgt.«
Noch ein weiterer Schock; Virgilia hatte doch gesagt, daß sie nach Chambersburg ginge!
»Ist deine – « Er konnte sich nicht dazu bringen, Frau zu sagen. »Ist die Schwester von George Hazard auch dabei?«
»Ja, sie ist mit den andern Frauen auf der Farm.«
»Gott«, flüsterte Orry.
»Gehen Sie wieder hinein, Mr. Main. Verhalten Sie sich ruhig, provozieren Sie uns nicht, und vielleicht erlaubt der Captain die Weiterfahrt des Zuges. Wir werden mit den Gewehren und der Munition des Arsenals unseren Triumph feiern. Wenn uns jemand den Weg versperrt, wird Blut fließen.«
»Ihr könnt nicht gewinnen, Grady. Euer Blut wird fließen.«
Gradys Stolz machte sich in Wut Luft. Er streckte den rechten Arm aus. Seine Hand zitterte – ob vor Aufregung oder vor Unsicherheit, war nicht auszumachen.
Die Mündung des Revolvers zitterte zwei Fingerbreit vor Orrys Nase. Er stand regungslos, schreckensstarr da. Fünf Sekunden vergingen. Weitere fünf Sekunden…
Plötzlich flog die Hoteltüre auf. »Orry?«
Grady senkte rasch den Revolver; Ekel zeigte sich auf seinem Gesicht.
»Dort hinein!« Er schob Orry zu seiner Schwester hin. Orry folgte ihr in die Halle. Grady gab der Tür mit seinen schweren Schuhen einen Stoß.
Es war still in der Halle. Die Reisenden waren eingenickt oder starrten ins Leere. Stunden waren verstrichen. Es gab auch keine Emotionen mehr. Es hatte schon lange niemand mehr etwas gesagt.
Brett schlief mit dem Kopf auf der Schulter ihres Bruders. Orry betrachtete das hin und her schwingende Pendel der Uhr. Es schien zu schweben. Er rieb sich die Augen. Die Müdigkeit und die ganze Anspannung forderten ihren Tribut.
Phelps kam wieder herein; er sah verstört aus. »Bitte alle zurück an Bord. Wir können gehen.« Er flüsterte ihnen die Nachricht förmlich zu, wohl aus Angst, Captain Brown könnte seine Meinung sonst wieder ändern.
Männer und Frauen atmeten auf und stürzten zur Tür. Orry weckte Brett und führte sie über den Bahnsteig an den Gewehren von vier Wachtposten vorbei. Sie stiegen in den dunklen Zug ein, und nach wenigen Minuten puffte der Zug langsam über die überdachte Brücke des Shenandoah.
Phelps kontrollierte den ganzen Zug auf irgendwelche Beschädigungen hin. Langsam rollten die Wagen einer nach dem andern aus dem Schatten der Brücke. Es dämmerte. Orry saß mit der Stirn ans Fenster gelehnt da und blickte auf das über den Bergspitzen des Blue Ridge auftauchende Sonnenlicht.
Im Mittelgang des Zugs tanzte ein Mann mit seiner weinenden Frau. Phelps betrat den Waggon. Eine Frau rannte auf ihn zu und hielt ihm einen Papierfetzen vors Gesicht. »Ich werde das hinauswerfen. Wir müssen die Leute warnen.«
»Aber wir werden demnächst in Baltimore – «
Die Frau nahm keine Notiz davon. Als sie davonrannte, nahm Phelps seine Kappe ab und kratzte sich am Schädel.
Orry fühlte sich wie ausgepumpt, und zum erstenmal war er davon überzeugt, daß einer Bedrohung durch Yankees von John Browns Sorte nur mit Waffengewalt begegnet werden konnte. Angenommen, man würde zusichern, daß die Sklaverei ein Ende nehmen sollte – und im geheimsten Winkel seiner Gedanken tat er dies manchmal –, wäre eine gewaltsame Revolution dann der richtige Weg? Nein, dazu durfte es nicht kommen, dachte er, als er Papierfetzen an seinem Fenster vorbeiwirbeln sah. Es waren Botschaften von Reisenden, die die Nacht überlebt hatten.
Botschaften, die der Welt mitteilten, was in Harpers Ferry geschehen war.
Drei Tage später kaufte Orry im Hotel in Baltimore eine Zeitung. Überall in Hotelhallen, Restaurants und auf den Straßen sprachen die Leute von nichts anderem als von dem Überfall; nur zwei der Aufrührer hatten überlebt. Browns Männer hatten vier Menschen aus der Stadt getötet. Einer davon war der schwarze Gepäckträger, den Orry auf dem Bahnsteig gesehen hatte. Eine Weile lang war auch ein Neffe dritten Grades von Präsident Washington als Geisel gefangengehalten worden.
Ein eilends aus Washington abgeordneter Marinetrupp hatte dem Aufstand schließlich ein Ende gesetzt. Das Kommando hatte Lee geführt; er war von einem alten Freund von Charles, Stuart, begleitet gewesen. Brown war verwundet worden, als er einen Lokomotivschuppen verteidigte, in dem er Unterschlupf gesucht hatte. Er befand sich nun in Charles Town, Virginia, im Gefängnis.
Orry las weiter in der Zeitung. »Hier sind Browns Männer, die getötet wurden, aufgeführt«, sagte er zu Brett. »Einer davon ist Grady Garrison, Neger.«
»Garrison?« wiederholte sie.
Orry zuckte die Achseln. »Wahrscheinlich hat er den Namen von jenem Aufwiegler aus Boston übernommen.«
Brett hatte einen fast ebenso melancholischen Gesichtsausdruck wie Orry. »Wird Virgilia irgendwo erwähnt?«
»Nein, nicht mit einem Wort. Man nimmt an, daß alle Verschwörer, die nicht direkt am Überfall beteiligt waren, geflohen sind, als die Schießerei losging. Die Farm ist ja nicht so weit von Harper’s Ferry entfernt, daß sie die Schüsse nicht hätten hören können.«
»Nun, sosehr ich Virgilia auch verabscheue, so hoffe ich doch, daß sie hat flüchten können.«
»Ich hoffe es auch. George zuliebe.«
So schreckenerregend der Überfall auch ausgesehen hatte, als Orry mitten drin steckte, so war jetzt doch klar, daß die pathetische Sache von Anfang an zum Scheitern verurteilt gewesen war. Eine von Verrückten organisierte und von sozialen Außenseitern durchgeführte Verschwörung. Dennoch wurde das Land von einer Schockwelle erfaßt. Waren der Norden und der Süden durch die Ereignisse der letzten Jahre noch nicht unwiderruflich auseinandergetrieben worden, so würde die Spaltung jetzt vollzogen werden, dachte Orry.
Die folgenden Tage schienen dies zu bestätigen. Nicht einmal die blutigen Auseinandersetzungen in Kansas hatten das Land so vollständig in zwei Lager zu teilen vermocht. Ende Oktober kam Brown wegen Anstiftung zu einem Sklavenaufstand und Verrat gegen den Staat Virginia vor Gericht.