Einflußreiche Nordstaatler rühmten ihn und traten zu seiner Verteidigung auf. Emerson nannte ihn einen neuen Heiligen. Im Süden reagierte Huntoon mit typischer Heftigkeit. Er nannte Brown einen fanatischen Mörder und malte gräßliche Bilder von Komplotten, welche ›die schrecklichsten Ängste unseres Heimatlandes bestätigen‹. Orry erklärte sich traurig mit letzterem einverstanden. Obwohl der Überfall von Brown Orry nicht dazu bewegen konnte, ins Lager der Extremisten überzuwechseln, stand er ihnen nun doch wesentlich näher.
Die Angst vor weiteren Aufständen breitete sich seuchenartig aus. Dem Ashley entlang redeten die Plantagenbesitzer und ihre Frauen kaum noch von etwas anderem. Die Brüder LaMotte gründeten eine milizähnliche Organisation gleichgesinnter Männer, die Ashley-Garde. Huntoon wurde zum Ehrenhauptmann ernannt.
George schrieb Orry einen Brief, um sich für sein Benehmen in Lehigh Station zu entschuldigen. Er erwähnte Virgilia mit keinem Wort. Er äußerte Bedauern darüber, daß einige Südstaatler die sogenannten Schwarzen Republikaner für Browns Aufstand verantwortlich machten. Er sagte, daß Brown eindeutig im Unrecht gewesen sei – mit Ausnahme vielleicht seiner ursprünglichen Motivation. Der Wunsch nach einer Befreiung aller Sklaven war Georges Meinung nach lobenswert.
»Lobenswert!« Orry zerknüllte den Brief und schmiß ihn in eine Ecke.
In der Nacht des 1. Dezember 1859 widerhallten im Norden von Maine bis nach Wisconsin die Kirchenglocken. Man trauerte um John Brown. Am folgenden Tag stieg er in Charles Town aufs Schafott, und als ihm der Henker den Strick um den Hals knotete, blickte er friedlich in den klaren Winterhimmel.
An jenem Abend war Cooper in Mont Royal zum Abendessen. Er sprach sein Bedauern zu den Ereignissen des Tages aus. »Brown hätte nicht gehängt werden sollen. Zeit seines Lebens war er bloß ein armer Verrückter. Jetzt haben sie ihn zu einem Märtyrer gemacht.«
Einige Tage vor Weihnachten erhielt Orry einen weiteren Brief von George, der Coopers Aussage bestätigte. Am Schluß des Briefes war zu lesen:
Die Leute reden immer noch voller Emotionen über den Überfall. Weißt du, daß Grady auch daran beteiligt war und in Harper’s Ferry gestorben ist? Man hat mir gesagt, daß Virgilia auch für kurze Zeit auf der Farm gewesen ist. Sie ist verschwunden; seit dem Abend unseres Streits habe ich sie weder gesehen noch etwas von ihr gehört. Ich möchte mich für den Streit noch einmal aufrichtig bei dir entschuldigen. Möchtest du dein Schweigen nicht brechen, alter Freund, und mir schreiben, daß du meine Entschuldigung annimmst?
Widerwillig setzte Orry sich hin und schrieb einen Brief, den er eine Stunde später wieder zerriß.
Seine Gedanken kreisten unablässig um die Ereignisse von Harper’s Ferry. Sie waren maßgebend für seine Entscheidung, die er Ende Dezember in bezug auf Brett traf.
54
Clarissa war über den mit Kerzen geschmückten Weihnachtsbaum entzückt gewesen, und deshalb hatte Orry ihren Zeichentisch heruntergeholt und in einer Ecke in der Nähe des Baumes aufgestellt. Jetzt saß sie am Tisch und starrte abwechselnd während fünf bis zehn Minuten in eine Kerzenflamme oder murmelte vor sich hin, während sie an der neuesten Fassung des Familienbaumes arbeitete.
Ihr Haar war nun schneeweiß und ihr Lächeln treuherzig, wie dasjenige eines Kleinkindes. Manchmal beneidete Orry seine Mutter um ihre Entfremdung von der Wirklichkeit. Er war in letzter Zeit mit fast allem auf dieser Welt unzufrieden. Insbesondere haßte er die Verantwortung, die auf ihm lastete und von der er sich gern befreit hätte.
Brett kam herein und schloß behutsam die Tür.
»Eines der Hausmädchen sagte mir, daß du mit mir sprechen möchtest.«
Er nickte; er stand breitbeinig vor dem Kamin. Brett runzelte die Stirn; sie konnte die Spannung spüren und versuchte, sie mit einem Scherz zu mindern.
»Die weißen Strähnen in deinem Bart stehen dir gut zu Gesicht. In ein oder zwei Jahren wirst du einen herrlichen Sankt Nikolaus abgeben.«
Er lächelte nicht. »Ich muß im Augenblick eine andere Rolle spielen – diejenige deines Beschützers. Ich bin der Meinung, daß wir über dich und Billy miteinander reden sollten.«
»Sein Brief war eines der herrlichsten Geschenke für mich!« Billy hatte ihr mitgeteilt, daß er höchstwahrscheinlich einer Gruppe von Ingenieuren zugeteilt werden würde, die demnächst Ausbesserungsarbeiten am Fort Moultrie auf der Sullivan-Insel in der Nähe vom Hafen von Charleston vornehmen würde.
Brett blickte ihren Bruder prüfend an. »Ich hoffe, daß du mir das zweite Weihnachtsgeschenk, das ich mir sehnlichst wünsche, wirst geben können.«
»Ich kann dir die Erlaubnis für die Heirat nicht erteilen. Auf jeden Fall nicht jetzt.«
Er sagte das so direkt, daß sie am liebsten geweint hätte. Aber ein solches Benehmen schickte sich wohl nicht für eine Dame, und sie bewahrte die Fassung. Clarissa summte in ihrer Ecke ›Stille Nacht‹ vor sich hin.
»Darf ich dich bitten, mir die Gründe für deine Entscheidung mitzuteilen.«
Ihr ironischer Tonfall verstimmte ihn. »Es sind immer noch dieselben. Wir steuern auf Kollisionskurs mit den Yankees. Es gibt zwar noch einige vernünftige Männer, die sich für eine Kompromißlösung einsetzen, aber es passiert nichts. Und wenn jemand dafür verantwortlich ist, daß der Süden in die Unabhängigkeit getrieben wird – «
»Möchtest du damit sagen, daß du dir das wünschst?«
»Nein. Ich sage bloß, daß es kommen wird. Laß mich bitte ausreden. Wenn jemand die Sezession gefördert hat, dann ist es John Brown gewesen. Im Norden teilt man diese Ansicht. Am letzten Samstag stand etwas von Professor Longfellow zu diesem Thema im Mercury. Er war natürlich gegen die Todesstrafe für Brown. Weißt du, was dieser große Dichter, dieser Philanthrop gesagt hat? ›Dies ist, als würde man Wind säen, um den Sturm zu ernten, und das wird demnächst der Fall sein.‹« Orry hob den Zeigefinger wie ein Prediger. »Demnächst. Das war das Wort, das er gebrauchte.«
»Orry, verstehst du denn nicht? Billy und ich sind uns der traurigen Situation, in der sich unser Land befindet, bewußt. Aber das spielt keine Rolle. Wir lieben uns. Wir werden das Schlimmste überleben.«
»Das glaubst du, aber ich bin weiterhin der Meinung, daß der Druck, dem eure Ehe ausgesetzt sein wird, sie zerstören könnte.«
Orry war insgeheim nicht nur von Browns Überfall und dessen Folgen beeinflußt, sondern auch von Madelines unglücklicher Ehe und dem Tribut, den sie dafür entrichten mußte. Er fürchtete, daß seine Schwester ebenso unglücklich werden könnte, wenn auch aus andern Gründen.
»Tut mir leid, Brett. Ich kann es dir nicht erlauben. Bitte sag Billy, daß es mir leid tut.«
Sie antwortete ruhig: »Nein, das werde ich nicht tun.«
»Würdest du mir das bitte erklären?«
»Es ist ganz einfach: Wenn du mir deinen Segen zur Heirat verweigerst, dann werde ich eben ohne ihn heiraten.«
Mit harscher Stimme sagte er: »Die Zustimmung deiner Familie ist also nicht mehr von Belang?«
»O doch, eure Zustimmung wäre mir lieber. Ich möchte lieber keinen Unfrieden zwischen uns. Doch wenn ich, um den Frieden zu erhalten, Billy nicht heiraten darf, dann zum Teufel mit dem Frieden.«
»Paß auf, was du sagst! Du hast kein Recht, Äußerungen wie diese – zu sagen, was du willst und was du nicht willst. Du bist ja noch ein Mädchen! Und ein dummes dazu!«
Orry schrie so laut, daß Clarissa mit einem leichten Stirnrunzeln aufblickte. Sie starrte auf den bärtigen Mann und die junge Frau, die einander gegenüberstanden, schüttelte dann aber den Kopf, weil sie sie nicht erkannte.
Brett flüsterte mit brüchiger Stimme: »Besser dumm, als das, was aus dir geworden ist.«
»Was soll das heißen?«