»Ich meine, daß es dir nicht ansteht, andern Verhaltensmaßregeln vorzuschreiben. Du lachst nie. Du bist mit allen und allem unzufrieden. Es tut mir leid, daß du allein leben mußt, und es tut mir leid, daß du darunter leidest. Aber ich weigere mich, so zu leben wie du.«
Orry war überrascht, daß er den Wunsch verspürte, sie zu schlagen. Es gelang ihm jedoch, die Fassung zu bewahren.
»Geh auf dein Zimmer!«
Mit einem letzten, giftigen Blick hob sie ihre Röcke und lief hinaus.
Eine Stunde später torkelte Orry in seinem Schlafzimmer vor den Ankleidespiegel. Die leere Malzbierflasche fiel ihm aus der Hand und kollerte über den Boden.
Er spähte nach etwas im Spiegel, das die Anklage seiner Schwester widerlegt hätte, aber er fand nichts. Er gab dem Spiegel einen leichten Schubs mit der Hand. Er fiel nicht auf den Teppich, sondern auf den glänzend gebohnerten Boden und zerbrach in tausend Stücke. Orry stolperte zur Tür; sein Hemdkragen und seine Weste standen offen und der rechte Ärmel war nicht zugeknöpft. Er lallte vor sich hin.
»Es ist lange – es ist lange her, da lebte am Meer, da lebte am…«
Er kam nicht weiter. Sein vom Alkohol getrübtes Gedächtnis ließ ihn im Stich. Er packte einen zierlichen Stuhl und schleuderte ihn gegen die Wand, wo das schöne Möbel mit einem dumpfen Knall in seine Einzelteile zerbrach. Draußen in der Halle erblickte er einen kleinen Messingspiegel, den er mit einer unwirschen Handbewegung zu Boden fegte und mit den Füßen zertrat. Dann stolperte er auf das Treppenhaus zu.
Aus dem unteren Stockwerk blickten einige Haussklaven beunruhigt und verstohlen zu ihm hinauf. Er hielt sich krampfhaft am Geländer fest, und irgendwie gelang es ihm, heil nach unten zu kommen. Zu seiner Linken prangte ein weiterer Spiegel, ein schönes Stück, das Ashton vor langer Zeit einmal in Charleston erstanden hatte. Noch nie war ihm bewußt geworden, daß es so viele Spiegel im Haus gab. Die Spiegel zeigten ihm, was er eigentlich war: ein Versager als Mann, ein Versager in allem, was er je unternommen hatte.
Er riß den Spiegel von der Wand, trug ihn in die frostige Nacht hinaus und schleuderte ihn gegen den nächstbesten Baum; die herunterfallenden Glassplitter sahen wie Silberregen aus.
Orry rannte zurück ins Haus, trieb eine weitere Flasche Malzbier auf und wankte, vor sich hinfluchend, in sein Zimmer.
Clarissa blickte bestürzt von ihrem Zeichentisch auf, seufzte und widmete sich wieder ihrer Arbeit.
»Nach Charleston? Mitten in der Nacht?« Es war am folgenden Morgen, und Orrys schwere Augenlider mußten hart gegen das stechend helle Tageslicht ankämpfen. »Wo ist sie hingegangen? In ein Hotel?«
»Nein, Sir«, antwortete der nervöse Haussklave. »Zu Mr. Cooper. Sie hatte vier Koffer bei sich. Sie sagte, sie wolle eine Weile dort bleiben.«
»Gott«, flüsterte er.
Sein Magen rumorte, sein Kopf hämmerte. Während er in seinem ruinierten Schlafzimmer vor sich hingedämmert hatte, war Brett davongerannt. Noch nie hatte er sich so benommen. Sein Leben lang nicht. Die Scham war noch stärker als die Übelkeit, und sein Stolz war vernichtet. Er war von seiner eigenen Schwester geschlagen worden. Es wäre möglich gewesen, sie aus dem Mills House oder irgendeinem andern Hotel zurückzuschleppen, aber sie hatte sich klugerweise für das Haus an der Tradd Street entschieden. Sie und auch Orry wußten, daß Cooper ihr so lange wie nötig Obdach gewähren würde.
Mit der Stiefelspitze kickte er einige Spiegelscherben. »Los, schafft das weg!« Krank und völlig niedergeschlagen schleppte er sich wieder die Treppe hinauf.
Am Neujahrstag 1860 schrieb Orry seiner Schwester einen Brief. Der Tonfall war leicht drohend, und es kamen Worte wie Trotz, Pflicht und Autorität darin vor. Orry forderte Brett auf, unverzüglich nach Mont Royal zurückzukehren.
Er ließ den Brief von einem Sklaven nach Charleston überbringen. Doch bereits als er den Passierschein ausstellte, hatte er ein Gefühl der Niederlage. Es sollte ihn nicht täuschen – er erhielt keine Antwort.
Einige Tage später kam Cooper vorbei. Orry machte ihm Vorwürfe:
»Du leistest einem Familienstreit Vorschub, indem du ihr erlaubst, bei euch zu bleiben.«
»Sei nicht blöd«, gab Cooper zurück. »Es ist besser, sie wohnt bei uns, als in einem öffentlichen Haus. Brett hat vollkommen recht – und ich bin eigentlich hierhergekommen, um dir das zu sagen. Im übrigen unterstütze ich gar nichts, es sei denn ihren überfälligen Versuch, unabhängig zu werden. Schließlich ist es ihr Leben. Sie ist nicht irgendein Niggermädchen, das du mit demjenigen verheiratet kannst, der die beste Nachkommenschaft verspricht.«
»Du Hurensohn!«
Cooper langte nach seinem Hut. »Ich habe bereits gehört, daß du dich wie ein besoffener Matrose benommen hast. Jetzt muß ich feststellen, daß es stimmt. Auf Wiedersehen.«
»Cooper, Augenblick! Entschuldige! Ich bin außer mir –«
Doch sein Bruder hatte das Zimmer bereits verlassen.
55
Das politische Klima wurde von Monat zu Monat rauher. Gegen Ende des Frühlings trat die Demokratische Partei in Charleston zur Aufstellung ihrer Wahlkandidaten zusammen. Die Kandidatur von Douglas – auf die Cooper stark setzte – schien von Anfang an gefährdet.
Cooper und andere vertraten in den Versammlungsräumen der Institute Hall in der Meeting Street die Meinung, die Partei müsse einen Mann wählen, der den Stimmbürgern in andern Regionen ebenfalls genehm wäre, weil sonst der Süden leiden würde. Cooper betonte, daß die Republikaner eine noch schlimmere Medizin als Douglas sein könnten, aber es gab nur wenige, die ihm zuhörten, und Douglas’ Anhänger wurden schnell zu einer kleinen Minderheit.
Es kam zu einer heiklen Grundsatzdebatte. Die Anhänger von Douglas weigerten sich, eine Bestimmung zu befürworten, wonach die Sklaverei in den Territorien geschützt werden sollte. Wutentbrannt verließen Delegierte, darunter Huntoon mit den andern Männern aus South Carolina, den Saal, um unter sich zu diskutieren. Cooper erblickte Ashton auf der Galerie; sie war ganz aufgeregt und spendete eifrig Beifall.
Es war alles aus. Nach siebenundfünfzig Wahlgängen wurde die Versammlung vertagt, ohne daß ein Kandidat aufgestellt worden wäre. Die Partei hatte endgültig Schiffbruch erlitten.
Zu Beginn des Sommers traten die Nationalen Demokraten in Baltimore zusammen und nominierten Douglas. Die Abtrünnigen, die sich selbst den Namen Konstitutionelle Demokraten gaben, versammelten sich in Richmond, um die uneingeschränkte Sklaverei in den Territorien zu befürworten und John Breckinridge aus Kentucky zu nominieren. Eine dritte Splittergruppe versuchte, besorgte Bürger für ein bedingungsloses Eintreten für die Verfassung zu gewinnen, doch das ganze war nicht mehr als ein Strohfeuer.
Am Parteitag der Republikaner in Chicago wurde Seward von Lincoln geschlagen. Das Parteiprogramm enthielt eine Erklärung, die zu heftigen Kontroversen Anlaß gab. Es hieß, daß der Kongreß nicht ermächtigt sei, die Sklaverei gutzuheißen oder zu fördern, indem er es zulasse, daß sie in den Territorien Fuß fasse. Die Sklaverei konnte überall dort toleriert werden, wo sie bereits früher existiert hatte, aber die Republikaner waren einmütig dagegen, daß sie sich weiter verbreitete.
»Das republikanische Parteiprogramm ist ein Greuel«, sagte Huntoon zu Cooper. »Es ist wirklich eine Gewähr dafür, daß der Süden in den Kampf ziehen wird, wenn dieser Affe gewählt werden sollte.«
»Da Sie ja offensichtlich den Kampf wollen, überrascht es mich, daß Sie keine Propaganda für Lincoln machen.«
»Ich weiß wirklich nicht, was Sie meinen, Cooper«, entgegnete Huntoon mit unbewegtem Gesicht.
Doch seine Augen hinter den Brillengläsern blitzten amüsiert.
Mitte August machte Ashton einen Besuch in der Tradd Street.
»Um Himmels willen, Brett, ich habe wirklich geglaubt, daß dein Zukünftiger jetzt in Charleston sein müsse!«