Billy blickte sich vorsichtig um. Die Männer bildeten einen Halbkreis, der sich langsam schloß. Er wollte es nicht riskieren, daß Brett in ein Handgemenge geriet. Widerstrebend rief er Brett ein Wort zu, das seinem Charakter und seiner ganzen Erziehung zuwiderlief:
»Lauf!«
Brett zögerte. Er packte sie am Arm und schleppte sie praktisch zur Tradd Street. Der Mann mit der Augenklappe und seine Kumpane waren wie die Aasgeier hinter ihnen her. Steine flogen. Einer erwischte Billy am Hals und riß ihm die Haut auf.
An der Ecke Meeting und Tradd Street machten die Verfolger halt. Billy geleitete Brett bereits durch Coopers Gartentor. Keuchend schlossen sie das Tor hinter sich und lehnten sich an die Wand. Auf der Battery wurde eben ein zweiter Kanonenschuß abgefeuert.
»Ich bin noch nie vor jemandem oder etwas davongerannt«, keuchte Billy.
»Es ist – «, auch Brett war völlig außer Atem, »das einzige, was du tun konntest. Ich begreife nicht, wie Menschen aus South Carolina sich so benehmen können.«
Er ergriff ihre Hand und führte sie zur Treppe. Es war ihm nicht bewußt gewesen, wie tief der Haß eigentlich saß. Kein Wunder war der alte Gardner nicht besonders von seinem Posten angetan und feuerte Doubleday seine Haubitze als Warnung. Charleston war nicht mehr unter Kontrolle.
Als am folgenden Tag Lincolns Sieg feststand, nahmen die Festivitäten zu. Als der Leichter aus Fort Moultrie eintraf, ließ es die aufgeregte Menge nicht zu, daß die Waffen und die Munition verladen wurden – genau wie es der Offizier aus dem Arsenal prophezeit hatte.
Am Abend feierte die ganze Stadt: Musikkapellen spielten, Lampen und Kerzen brannten in fast jedem Fenster, und Gruppen nächtlicher Spaziergänger, teils nüchtern, teils nicht, lärmten an Huntoons Haus auf der East Battery vorbei.
Huntoon und Ashton waren eben dabei, sich für das Feuerwerk auf der Battery umzuziehen. Huntoon hatte eine alte, blaue Satinkokarde aufgetrieben, die er an seinem besten Kastorhut befestigte. Ashton stand vor dem Spiegel und rückte ihre Mütze mit den schwarzen und weißen Federn zurecht. Sezessionsmützen wurden sie von den Damen genannt. Sie waren hochmodisch.
»Plant man wirklich einen Sonderkongreß?« fragte sie.
»Klar. Er wurde von der Legislative für den siebzehnten Dezember einberufen, damit die zukünftige Beziehung des Staats mit dem Norden festgelegt werden kann. Sie kommt, Liebling.« Er umfaßte ihre Taille und wirbelte sie herum. »Die Unabhängigkeit. Senator Chestnut ist heute in Washington zurückgetreten. Senator Hammond auch.«
Ihre Ad-hoc-Feier wurde von einem Haussklaven unterbrochen.
»Da ist ein Herr, der Sie sehen möchte, Mist’ Huntoon.«
»Verflucht, Rex, ich hab’ jetzt für niemanden Zeit.«
»Er sagt, es sei wichtig.«
»Wie heißt er?«
»Mist’ Cam’ron Plummer.«
»Oh.« Huntoons Wichtigtuerei war wie weggeblasen. »Schick ihn zum Nebeneingang.«
Der Sklave ging hinaus. Huntoon und Ashton tauschten ernüchterte Blicke aus. Dann verließ Huntoon das Zimmer.
Im Schatten des Nebeneingangs flüsterte ihm ein Mann zu: »Ich habe mein Möglichstes getan, Mr. Huntoon. Genau, was Sie mir sagten. Bin auf der Lauer gelegen, bis sie auf der Straße auftauchten, und dann hinterher. Doch bevor wir sie richtig schnappen konnten, machten sie kehrt und rannten zum Haus an der Tradd Street. Ich muß meine Jungs aber noch zahlen. Wir haben alle unser Bestes getan.«
»Ich weiß, ich weiß – seien Sie leise.«
Es überraschte Huntoon nicht, daß der Plan mißlungen war. Es war Ashtons Idee gewesen, und er hatte sich ihr widersetzt. Doch sie hatte so lange geheult und gewütet, bis er ihr nachgab. Sie hatte ihm auch damit gedroht, daß sie einen Monat lang in einem andern Zimmer schlafen würde, und das hatte ihn in nicht geringem Maß bei seiner Entscheidung beeinflußt.
Doch kaum hatte er nachgegeben, als er es auch schon bereute. Ein Mann mit seinen Ambitionen konnte sich keine solch gefährlichen Späße leisten. Ashton sollte in Zukunft ihren Rachegelüsten allein frönen, er würde sich nicht mehr hineinziehen lassen. Dies war sein Beschluß, als er langsam einige Geldstücke in die Hand des Mannes mit der Augenklappe fallen ließ.
56
Orry schob seinen Teller beiseite. Cuffey sprang eilfertig vor. »Stimmt etwas nicht, Mist’ Orry?«
»Sag dem Küchenpersonal, daß das Rindfleisch schlecht ist.«
Cuffey nahm den Teller, schnupperte und verzog das Gesicht. »Klarer Fall. Möchten Sie etwas anderes?«
Er schüttelte den Kopf. »Ist deins auch schlecht, Cooper?«
»Ja. Ich wollte nichts sagen. Ich hätte es einfach stehengelassen.«
Cuffey verschwand mit den Tellern. Orry hing schlaff in seinem Stuhl, Herbstregen prasselte gegen die Fensterläden des Eßzimmers.
»Etwas stimmt wieder nicht in der Räucherkammer«, sagte Orry seufzend. »Sie ist feucht. Ich sage dir, erst seit Brett weg ist, bin ich mir darüber klargeworden, wie sehr ich von ihr abhängig war.«
Cooper wußte sehr wohl, was sein Bruder sagen wollte. Es gab einige nicht zu übersehende Zeichen. Die Fensterläden von Mont Royal waren völlig verwittert und hatten einen neuen Anstrich bitter nötig. Im Gästezimmer löste sich die teure geflockte Tapete. Überall in den Zimmerecken häufte sich der Staub. Bei seinem letzten Besuch in Mont Royal hatte Cooper erfahren, daß Cuffeys Frau, Anne, Zwillingen das Leben geschenkt hatte, daß aber eines der Mädchen gestorben war, weil es Komplikationen gegeben hatte. Niemand hatte Aunt Belle Nin holen lassen.
Cooper versuchte, die düstere Stimmung etwas anzuheben: »Nun, du mußt eben eine der Damen aus deinem Bekanntenkreis heiraten und ihr als Hochzeitsgeschenk einen Besen und einen Pinsel in die Hand drücken.«
»Nicht eine von ihnen wäre für diese Plantage geeignet.«
Cooper war von der kurzangebundenen Antwort überrascht; sie bestätigte ihm jedoch, was er schon von Brett wußte: Orry lächelte nicht mehr, und sein Verstand bewegte sich in düsteren Welten, die nur er allein kannte. Cooper glaubte es. Er befand, daß es wohl besser sei, auf den eigentlichen Grund seines Besuches zu sprechen zu kommen. »Nun ja, ich wünschte, du wärst an jemandem interessiert, denn Brett wird wohl kaum zurückkommen.«
»Wegen Billy.«
»Ja, das stimmt.«
»Du willst mir doch nicht etwa mitteilen, daß die beiden schon geheiratet haben?«
Cooper schüttelte den Kopf. »Sie schieben es immer noch hinaus, obwohl Billy sich deswegen ärgert. Brett wartet immer noch aus Rücksicht auf dich.«
Orry brummte verächtlich und langte nach der Whiskeyflasche aus geschliffenem Glas. Sie gehörte neuerdings zum festen Zubehör auf dem Tisch, wie Cooper feststellte.
»Meinetwegen braucht sie nicht zu warten.« Orry schenkte sich einen Whiskey in den Weinkelch ein, aus dem er schon eine beträchtliche Menge weißen Bordeaux getrunken hatte. »Ich habe nicht die Absicht, meine Meinung in absehbarer Zukunft zu ändern.«
Cooper lehnte sich vor. »Glaubst du nicht, daß du das eigentlich solltest?«
»Hat sie dich deswegen von Charleston hierhergeschickt?«
»Nein. Verflucht noch mal. Orry«, er klopfte auf den Tisch, »trotz dem Benehmen der LaMottes und einiger unserer Nachbarn leben wir nicht mehr im Mittelalter. Die Frauen haben ein Recht darauf, ihr eigenes Leben zu führen. Bitte, erlaube Brett ihr eigenes Leben, unabhängig von den Gefahren, die du dir vorstellst oder einbildest. Sie versucht, den Familienfrieden zu erhalten – was mehr ist, als ich an ihrer Stelle tun würde.«
»Meine Antwort ist immer noch ein Nein.«
Aber seine Entschlossenheit geriet ins Wanken. Er hatte in letzter Zeit viel über Bretts Situation nachgedacht und wußte, daß Cooper recht hatte und er die Erlaubnis geben sollte. Aber irgendwie konnte er es nicht. Die Ereignisse in Washington, in Charleston, ja überall, waren zu bedrohlich …