Cooper faltete seine Serviette zusammen und hielt sie zwischen Daumen und Zeigefinger. »Na schön. Cuffey, würdest du bitte meinem Kutscher sagen, daß er sofort vorfährt?«
»Ich dachte, du würdest über Nacht bleiben?« sagte Orry.
»Wozu? Ich bin ebenso pessimistisch, was die Zukunft anbelangt, wie du, aber an diesem Punkt gehen unsere Meinungen auseinander. Das Leben ist mühselig, und das war schon immer so. Brett verdient es, das Leben zu genießen, solange sie das noch kann. Du stehst ihr im Weg und hast offensichtlich die Absicht, dort zu bleiben. Ich bedaure es zwar, aber ich befürchte, ich kann nichts dagegen tun. Ich werde noch bei Mutter hereinschauen und dann gehen. Entschuldige mich.«
Steif und ohne Lächeln verließ er das Zimmer.
Orry blieb sitzen und hörte dem Regen zu. Nun hatte auch Cooper sich gegen ihn gewandt. Vor einer Weile war er noch in bezug auf Bretts Heirat ins Wanken geraten, aber diese neuerliche Zurückweisung schürte seine Wut und festigte seine Entschlossenheit.
Er bemerkte, daß sein Glas leer war. Wann hatte er den ganzen Whiskey getrunken? Er konnte sich nicht erinnern. Er streckte den Arm aus und umschloß den Flaschenhals mit der Hand.
»Sieh dir den Nebel an«, murmelte Judith. »Ich hoffe, daß Cooper nicht die halbe Nacht lang ausbleibt. Ich glaube, er wird krank.«
Brett blickte von den Stricknadeln auf, deren Handhabung sie eben der achtjährigen Marie-Louise erklärt hatte. »Weshalb ist er zur Werft zurückgegangen? Arbeitet noch jemand?«
»Nein. Er ging hin, weil er sich Sorgen macht. Sie sind mit dem Bau des Schiffes zeitmäßig arg im Rückstand. Der wichtigste Architekt hat Cooper verlassen, weil er nicht mit den hiesigen Arbeitern zurechtkam. Die Banken zögern mit weiteren Darlehen, weil es nicht sicher ist, ob die Handelsbeziehungen mit dem Norden nicht unterbrochen werden. Ach Gott, wie furchtbar das alles ist!«
Sie hätte noch hinzufügen können, daß Cooper sich auch wegen Brett Sorgen machte, aber sie unterließ es. Es hätte nur Schuldgefühle bei Brett ausgelöst, und Brett ging es ohnehin nicht besonders gut.
Judith war sehr beunruhigt über ihren Mann. Letzte Woche war er morgens gegen halb fünf aus Mont Royal zurückgekehrt. Seither hatte er jeden Tag in der Werft auf James Island verbracht und war jeden Abend nach dem Essen nochmals hinübergefahren. Er hatte einen Fährmann auf Abruf eingestellt. Der Mann fing an, sich zu beklagen. Aber er war wenigstens noch gesund. Cooper hingegen hatte etwa fünf Kilo abgenommen, was für einen Mann von seiner schlanken Statur nicht wenig war. In letzter Zeit sah sein Gesicht ziemlich wächsern aus. Während Brett mit Marie-Louise lachte und flüsterte, beobachtete Judith den Nebel, der langsam am feuchten Fenster vorbeistrich. Was mochte Cooper in einer solchen Nacht wohl auf der Werft tun?
Sie wußte es. Er war in der Lage, sich vor lauter Sorgen selber zu zerstören.
Das große Kielschwein der Star of Carolina ragte in den Nebel hinaus wie das Rückgrat eines längst gestorbenen und vermoderten Sauriers.
Cooper wandte sich ab. Der Traum vom Schiff war ausgeträumt; das hatte er sich schließlich eingestehen müssen. Er hatte Schiffbruch erlitten. Doch was sollte er jetzt tun?
Er zog sein Taschentuch heraus, schneuzte sich die triefende Nase und rieb sie mehrmals. Er wurde krank, aber es war ihm egal.
Aus der Ferne war das Horn eines Dampfers zu vernehmen. Dichter Nebel hing über James Island. Cooper hätte sich verirrt, wenn nicht die beiden Laternen an dem Bürogebäude ihm mit ihrem fächerförmigen Lichtschein den Weg gewiesen hätten.
Ich hätte die ganze Sache noch hinkriegen können, wenn Van Roon nicht fortgegangen wäre, dachte Cooper, als er durch den Schlamm trottete, der ihm über die Schuhe schwappte. Der Architekt, Van Roon, war der Eckpfeiler des Vorhabens gewesen. Leider waren er und ein armer Teufel, den man dazu eingestellt hatte, eimerweise Nietbolzen anzuschleppen, miteinander in ein Handgemenge geraten. Obwohl Van Roon ein gebildeter und zurückhaltender Mann war, hatte er Schläge ausgeteilt und geflucht wie ein Matrose. Und weshalb? Es ging um die Frage, wem bei einer Unabhängigkeit von South Carolina das Bundeseigentum, das heißt, das Arsenal und die Festungen, zugesprochen würde. Ein halbes Dutzend Arbeiter hatten abwechselnd auf Van Roon eingeschlagen, bevor Cooper hingekommen und seinen Architekten gerettet hatte.
Cooper war am Ufer angelangt und spähte über den Schiffskanal, in seiner Phantasie stieg das fünfeckige Fort Sumter vor ihm auf. Die Festung war im Winter 1828-29 errichtet, aber nie fertiggestellt worden. Bis auf den heutigen Tag war sie unbemannt geblieben. Doch da sie sich in der Nähe des Kanals und des Hafens befand, war sie strategisch gesehen natürlich von Bedeutung, vielleicht von noch größerer Bedeutung als eines der andern Charleston-Forts. Und wenn der alte Gardner sie befestigen würde? Dann würde wohl die Hölle los sein.
Der Staat, den Cooper so sehr liebte, war unter die Kontrolle von Idioten geraten, von Idioten und Opportunisten nach der Art von Ashtons Ehemann. Sie gaben ihre Parolen zum besten, ließen ihre aufgeblasene Rhetorik vom Stapel und vergaßen dabei die Fabriken, die großen Industriewerke wie dasjenige der Hazards im Norden. Im ganzen Süden gab es nur ein einziges größeres Eisenwerk: Tredegar in Richmond. Wenn der Krieg ausbrach, wie wollte der Süden es verteidigen? Mit gewandten Deklamationen und einem Bollwerk aus Baumwolle?
Was würde in den nächsten Monaten geschehen? Cooper starrte in den Nebel und hatte dabei das Gefühl, daß er die Antwort auf diese Frage kannte.
»Die Apokalypse«, sagte er leise vor sich hin und nieste dann so heftig, daß ihm der Hut vom Kopf fiel.
Der Hut fiel ins Wasser und wurde von einer leichten Welle erfaßt. Cooper watete hinein, aber der Hut trieb immer weiter ab. Als das Wasser ihm schließlich bis an die Oberschenkel reichte, gab er seine Verfolgungsjagd auf.
Herrlich, dachte er und grinste im stillen. Der Allmächtige holt dich wieder auf die Erde zurück, indem er dir den Hut davonbläst. Oder sollte es eine Warnung sein? Ein Hinweis darauf, daß nur derjenige, der sich um die kleinen Dinge sorgte, die beinahe sichere Apokalypse überleben würde?
Er watete ans Ufer zurück und eilte, von einer Inspiration beflügelt, ins Büro: Da man in diesen Zeiten offensichtlich keinen anständigen Schiffsarchitekten nach Charleston locken konnte, mußte er eben sein eigener Architekt sein.
Er riß sämtliche Pläne von den Wänden und schmetterte sie auf den großen Arbeitstisch. Dann drehte er das Licht voll auf. Er vertiefte sich in die Pläne, wühlte darin herum, stellte Berechnungen an, doch schließlich mußte er zugeben, daß er zwar einiges über die einzelnen Aspekte des Vorhabens wußte, aber nicht genug. Die Star of Carolina war nicht zu retten.
Als der Morgen dämmerte, fand der gähnende Fährmann Cooper bewußtlos und fiebernd mit dem Kopf auf dem Arbeitstisch.
»Den Schubkarren hierher! Bitte, treten Sie zur Seite!«
Billys erster Befehl wendete sich an einige zivile Arbeiter, der zweite an einige Touristen, die auf den Dünen in der Nähe von Fort Moultrie spazierengingen. Die Ausbesserungsarbeiten wurden immer wieder durch Gaffer gestört, und Billy verlor des öfteren die Geduld.
Heute war keine Ausnahme. Er befahl einer Familie, ihre Picknickreste von einer Düne zu räumen, die von seinen Männern abgetragen wurde, damit sie nicht von Heckenschützen besetzt werden konnte. Für November war das Wetter ungewöhnlich warm, und er schwitzte stark.
Er bemerkte, wie Hauptmann Foster gestikulierend vom Fort herkam. Eilends verließ er seine Männer und ging seinem Vorgesetzten entgegen. Foster fiel erneut auf, daß Billy wieder einmal barfuß arbeitete. Er war zwar nicht damit einverstanden, sagte heute morgen jedoch nichts, weil er etwas anderes auf dem Herzen hatte.
»Gardner ist abgelöst worden. Wir bekommen einen neuen Kommandanten.«