Als sie die Veranda verlassen hatte, hatte sie einige luzide Augenblicke. Sie ging in ihrem düsteren Wohnzimmer auf und ab, rezitierte fragmentarisch Gedichte, die ihr von Gott weiß woher zugeflogen kamen, und dachte an Orrys dunkle Augen und an den Klang seiner Stimme, mit der er ihr vorgelesen hatte.
Sie mußte ihn wiedersehen. Als sie dies beschloß, lächelte sie seit Tagen wieder zum erstenmal.
Sie nahm das Tuch vom Geschirr mit dem Essen, das ihr wie gewöhnlich auf einem Tablett ins Zimmer gestellt worden war. Köstlich, diese dickflüssige Tunke über dem Gemüse! Sie war ganz wild danach und bestellte sie nun jeden Tag. Sie aß genießerisch alles auf und summte vor sich hin, als sie sich ihr bevorstehendes Rendez-vous bei der Kapelle mit dem Namen …
Mit dem Namen …
Sie konnte sich nicht mehr an den Namen erinnern. Langsam machte sich die Erschöpfung wieder in ihr breit. Sie sank in ihre Schleierwelt der Gleichgültigkeit zurück und tastete nach dem Bett. Tränen glänzten in ihren Augen – warum, war ihr nicht bewußt. Als sie sich auf das Bett niederließ, murmelte sie Orrys Namen vor sich hin. In voller Kleidung schlief sie die Nacht durch.
Am nächsten Morgen stellte sie fest, daß das Tablett entfernt worden war und daß man ihr Treibhausblumen aufs Zimmer gestellt hatte. Sie freute sich wie ein Kind über ein neues Spielzeug. Und dachte kein einziges Mal mehr an Orry.
57
»Ein Besucher?« sagte Orry, als er dem Haussklaven zur Treppe folgte. »Ich erwarte nie… Gott im Himmel, bist du es wirklich, George?«
»Ich glaube schon«, antwortete der vor Nässe und Schmutz triefende Reisende und lächelte. »Wasch mir die Asche vom Haupt und bürste mir den Staub aus den Kleidern, dann werden wir es mit Sicherheit feststellen können.«
Orry rannte die Treppe hinunter. »Cuffey, bring die Reisetaschen gleich aufs Gästezimmer. George, hast du schon was zu essen gehabt? Das Abendessen wird in einer halben Stunde aufgetragen. Warum hast du uns nicht mitgeteilt, daß du kommst?«
»Ich wußte es selbst noch nicht bis vor ein paar Tagen, als ich den Entschluß faßte. Abgesehen davon«, er suchte nervös nach einer Zigarre, »hättest du mir wohl ohnehin nicht geantwortet, wenn ich dir meine Ankunft schriftlich mitgeteilt hätte. Du hast keinen meiner Briefe beantwortet.«
Orry errötete. »Ich hatte sehr viel zu tun. Die Ernte – und dann befindet sich der ganze Staat in Aufruhr, wie du weißt.«
»Das kann ich nur bezeugen. Als ich in Charleston aus dem Zug stieg, hatte ich das Gefühl, ich sei in einem fremden Land.«
»Du könntest bald recht haben damit«, sagte Orry mit einem trockenen Lachen. »Sag mir, ist dieses Gefühl im Norden weit verbreitet?«
»Ich würde beinahe sagen, auf der ganzen Welt.«
Orry schüttelte den Kopf, obwohl ihn das, was sein Freund sagte, nicht überraschte: Der von Gouverneur Pickens anberaumte Sonderkongreß war bereits in der Baptistenkirche in Columbia zusammengetreten. Alle nahmen an, daß die Abgeordneten für die Sezession stimmen würden.
George räusperte sich, um das Schweigen zu brechen. »Schenkst du mir bitte einen Drink ein? Und dann wollen wir reden.«
Orrys Gesicht hellte sich etwas auf. »Natürlich. Komm.«
Er führte George in die Bibliothek. Er freute sich unbändig, seinen Freund wiederzusehen, aber die Spannungen, die es zwischen ihnen gegeben hatte, wirkten wie ein Damm, und er konnte George seine Gefühle nicht mitteilen. Er holte seinen besten Whiskey. Als er einschenkte, bemerkte George, daß er einige Stunden mit Cooper verbracht habe.
»Aber ich bin eigentlich nicht deswegen hierhergekommen«, fuhr er fort und streckte sich gemütlich in einem Stuhl aus. Er zog einen Schuh aus und rieb sich den Fuß.
Orry stand mit dem Glas in der Hand mit dem Rücken zum Fenster. Schultern und Hinterkopf waren ganz in das blasse Winterlicht getaucht. »Weshalb bist du denn gekommen?«
Kann er mir nicht wenigstens halbwegs entgegenkommen, dachte George in einem Anflug von Frustration. Doch dann erinnerte er sich an die eigene Traurigkeit, die ihn schließlich dazu gedrängt hatte, diese Reise zu unternehmen. Er sah den großen, finsteren Mann beim Fenster an und entgegnete:
»Aus zwei Gründen. Erstens möchte ich unsere Freundschaft retten.«
Es folgte ein betäubendes Schweigen. Orry war zu bestürzt, um Worte zu finden.
George lehnte sich vor; die vorgeschobene Schulter und das vorgestreckte Kinn unterstrichen die Eindringlichkeit in seiner Stimme.
»Diese Freundschaft ist mir sehr wichtig, Orry. Abgesehen von Constance und meinen Kindern, ist es das, was ich auf dieser Welt am höchsten schätze. Nein, warte – laß mich ausreden! Ich habe mich zwar schriftlich bei dir entschuldigt, aber ich hatte jedesmal ein Gefühl der Unzulänglichkeit. Ich nehme an, dir ist es ähnlich ergangen. Deshalb bin ich hergekommen, um von Angesicht zu Angesicht mit dir darüber zu reden. Laß es nicht zu, daß die Hitzköpfe hier im Süden oder die Extremisten wie meine Schwester die Gefühle der Freundschaft, die wir füreinander hegen, zerstören.«
»Hast du etwas von Virgilia gehört?«
George schüttelte den Kopf. »Sie versteckt sich immer noch. Ehrlich gesagt, mir ist es egal, was sie tut. Ich hätte nicht so eilfertig ihre Partei ergreifen dürfen. Nun, ich bin wütend geworden.«
Orry versuchte der Verlegenheit die Spitze abzubrechen und sagte leise: »Wir alle sind wütend geworden.«
»Ich bin nicht gekommen, um anzuklagen, sondern um dich um Verzeihung zu bitten. Es ist mehr als klar, daß South Carolina beabsichtigt, aus der Union auszutreten, obwohl die Handlung meiner Meinung nach ein schrecklicher Irrtum ist. In bezug auf die Sklaverei sind Kompromisse noch immer möglich gewesen, doch wenn ich die in Washington herrschende Stimmung richtig auslege, so gibt es im Falle einer Auflösung der Union keinen Kompromiß. Dazu kommt, daß andere Staaten dem Beispiel dieses Staats folgen werden, und die Konsequenzen können nicht anders als schrecklich sein. Das Land kommt mir vor wie ein Schiff, das auf eine Sandbank aufgelaufen ist: Es ist unfähig, sich selber aus der Lage zu befreien und wird langsam zersplittern. Die Hazards und die Mains sind einander während Jahren sehr nahegestanden. Ich möchte nicht, daß diese Freundschaft auseinanderbricht.«
Orry sah seinen Besucher direkt an; der Damm in seinem Innern zerbröckelte langsam, und er fühlte sich erleichtert, als er sagte:
»Ich auch nicht. Ich bin froh, daß du gekommen bist, George. Jetzt kann auch ich um Entschuldigung bitten. Begraben wir das Kriegsbeil.«
George ging auf seinen Freund zu. »So gut das in den heutigen Zeiten möglich ist.«
Sie umarmten einander wie Brüder.
Bald darauf plauderten sie gemütlich wie in alten Tagen. George wurde nachdenklich. »Ich befürchte wirklich, daß es zu einer harten Auseinandersetzung kommen wird, wenn South Carolina abfällt. Und nicht nur zu einer politischen.«
Orry nickte. »Die Frage nach dem Eigentum der bundesstaatlichen Forts hat sich aufs Äußerste zugespitzt.«
»Das wurde mir bei meinem kurzen Aufenthalt in Charleston klar. Jemand muß einen Ausweg aus diesem ganzen Schlamassel finden, bevor die Verrückten auf beiden Seiten uns in einen Krieg zerren.«
»Gibt es einen Ausweg?«
»Lincoln und einige andere haben eine Lösung vorgeschlagen: Aufhebung der Sklaverei und Entschädigung des Verlusts für den Süden. Entschädigung, auch wenn das Schatzamt die letzte Unze Gold hergeben muß. Sicher keine Ideallösung und auch nicht moralisch einwandfrei, aber wenigstens könnte damit eine bewaffnete Auseinandersetzung vermieden werden.«
Orry blickte skeptisch. »Du hast Ashtons Ehemann noch nie gehört, und er vertritt die für diesen Staat typische Haltung. Der Konflikt soll gar nicht vermieden werden.«