»Ich glaube nicht, daß ich dich jemals so wütend gesehen habe«, sagte Orry zu seinem älteren Bruder.
Cooper blieb abrupt stehen und sah diese vier Menschen, die er liebte, an. Wenn es irgendwo auf der Welt noch Menschen gab, die seinen bohrenden Schmerz verstehen würden, dann sie.
»Ich bin so wütend, weil diese verdammte Sezession mich in eine unmögliche Situation gedrängt hat. Ich weiß überhaupt nicht mehr, wie ich reagieren soll, wohin mit meiner Loyalität! Ich hasse es, mich dem Staat gegenüber, den ich mein ganzes Leben lang geliebt habe, als Verräter zu fühlen. Aber noch schlimmer ist das Gefühl, die Nation verraten zu haben. Die Auflösung der Union! Es schreit zum Himmel, verdammt – «
»Cooper, wie redest du«, flüsterte seine Frau, aber er hörte sie nicht.
»– ein Main hat sein Blut vergossen für diese Union! Wenn ihr jetzt noch nicht das Gefühl habt, entzweigerissen zu werden – wartet’s nur ab. Diese verrückten Idioten wissen nicht, was sie getan haben. Was sie sich, ihren Kindern, uns allen angetan haben. Sie wissen es nicht!«
Aschfahl im Gesicht, drehte er sich abrupt um und marschierte weiter – eine Schattengestalt gegen den feuerhellen Himmel. Die andern folgten dicht hinter ihm. Brett versuchte Judith zu trösten, die ansonsten nicht leicht zu schockieren war, aber nun völlig die Sprache verloren hatte. Orry empfand bereits etwas von der Verwirrung, von der Cooper gesprochen hatte.
George hatte Kopfweh wegen den Kanonenschüssen. Er schien bloß die donnernden Schüsse, nicht aber das Jubelgeschrei und Gelächter zu hören. Er dachte an Mexiko. Es war ein leichtes, die Augen halb zu schließen, die in den Feuerschein getauchten Gebäude verschwommen vor sich zu sehen und sich vorzustellen, daß Charleston bereits eine Stadt im Krieg war.
Gesichter schwebten an Orry vorbei, vom Feuerschein und von Leidenschaft verzerrte Gesichter. Mit jedem Augenblick schienen die glotzenden Augen und die gaffenden Mäuler unmenschlicher zu werden. Die primitiven Emotionen verwandelten normale Gesichter in Fratzen.
Brett schmiegte sich an Orry und umklammerte seinen Arm; sie hatte offensichtlich Angst vor dem Gedränge der Menge. Cooper und Judith gingen dicht hinter ihnen, gefolgt von George wie von einer wachsamen Nachhut. Man beobachtete sie jetzt nicht mehr.
Orry sah, wie drei junge Rowdies mit ihren Stöcken auf einen alten Neger einschlugen und dann den Inhalt ihrer großen, bauchigen Biergläser, die sie aus einer Bar mitgenommen hatten, über ihn gossen. Er sah, wie ein ehrwürdiges Mitglied der Methodistenkirche, die Flasche in der Tasche, an einem Laternenpfahl Halt suchte und sich bekotzte. Er sah, wie die Frau eines bekannten Juweliers der Meeting Street sich in einem dunklen Hauseingang von einem Fremden betasten ließ. Überall kam es zu Exzessen.
Auch die Parolen, die man ihm ins Ohr schrie oder auf Plakaten oder scheinbar über Nacht hergestellten Seidenbannern zur Schau trug, ließen in dieser Hinsicht nichts zu wünschen übrig. Drei Männer rauschten mit einem ausgebreiteten Banner auf dem Gehsteig an ihm vorbei. Orry mußte sich ducken und die andern auffordern, es ihm gleichzutun.
Die Rechte des Südens dürfen nicht mit Füßen getreten werden!
Orry und die andern richteten sich wieder auf. Plötzlich bemerkte er Huntoon, der mit andern hinter den Bannerträgern hereilte.
»Orry! Guten Abend!« Huntoon tippte an seinen Hut, der mit einer auffälligen blauen Kokarde geschmückt war. Orry hatte die Dinger heute abend bereits dutzendweise gesehen. Huntoons Krawatte war lose, und der Hemdzipfel hing unordentlich über die Hose – ungewöhnlich für einen sonst tadellos gekleideten Mann.
Aber dies war ja auch eine ungewöhnliche Nacht, wie Huntoons außerordentlich breites Lächeln bezeugte. »Entsprechen die Feierlichkeiten Ihrem Geschmack?«
Die Frage war mit einem hämischen Unterton an alle fünf gerichtet worden, aber wohl hauptsächlich auf Cooper gemünzt, wie Orry sich vorstellte. »Nicht ganz«, antwortete er. »Ich hasse es, wenn anständige Leute sich lächerlich machen.«
Doch Huntoon ging nicht darauf ein. »Ich meine, daß Lustbarkeiten völlig in Ordnung und Exzesse durchaus verständlich sind. Wir haben der Welt unsere Freiheit proklamiert.« Sein Blick streifte Brett. »Natürlich rückt mit unserer Unabhängigkeit die Frage nach dem Bundeseigentum in Charleston ins Blickfeld, die Zollbehörde, das Arsenal, die Forts. Wir sind dabei, eine Gruppe von Unterhändlern zusammenzustellen, die Präsident Buchanan die Frage vorlegen werden. Die Übergabe des Eigentums an den souveränen Staat South Carolina ist nun zwingend geworden.«
George stellte sich neben Brett. »Und wenn der alte Buck die Dinge anders sieht?«
Huntoon lächelte. »Dann, Sir, werden wir die Frage mit andern Mitteln beantworten.«
Er tippte wiederum an den Hut, ging weiter und tauchte in der Menschenmasse unter, die sich lärmend und singend durch die Straßen schob: »Die Rechte des Südens! Die Rechte des Südens!«
Brett sah Huntoon nach, bis er verschwunden war. Orry spürte, wie sie seinen Arm fester umklammerte. »Das mit den Forts sagte er wegen Billy, nicht wahr?«
Cooper hörte die Frage. »Daran zweifle ich nicht. Menschlichkeit ist bei Mr. Huntoon, wenn überhaupt, nur in einer kleinen Dosierung vorhanden.«
Sie sahen ihn nochmals kurz auf der andern Straßenseite, als er sich die Stufen zum Mills House hinaufkämpfte und dann von oben einen Blick auf das Treiben der Menge warf. Seine Brillengläser widerspiegelten die Flammen eines Fasses mit brennendem Harz. Wie die Augen eines grinsenden Dämons, dachte Orry. Eines von vielen Spukbildern.
Er dachte an Major Anderson von Fort Moultrie. Er hatte Anderson in Mexiko gekannt: ein Offizier mit gutem Ruf, gewissenhaft und kompetent. Was mochte wohl in ihm vorgehen? Wem würde er in den nun kommenden Monaten die Treue halten? Den Sklavenbesitzern seines Heimatstaats Kentucky oder der Armee?
Viele Amerikaner – viele Männer aus West Point – würden jetzt auf eine harte Probe gestellt werden; sie wurden jetzt zu einer Entscheidung gezwungen. Orry hatte beinahe das Gefühl, daß die Welt in die Hände einer bösen Macht geraten war.
»Tja, wie du bereits gesagt hast, Cooper, ein historischer Moment!« sagte er. »Komm, gehen wir nach Hause.«
Das taten sie, schweigend und deprimiert.
Von den schwitzenden und schreienden Schaulustigen umgeben und beinahe erdrückt, fühlte sich Ashton auf der Battery unerwartet erregt. Es war, als ob gewaltige Energien vom Pöbel in die Erde abgeleitet würden und dann über ihre Beine bis zu ihrem Zentrum wieder aufstiegen. Sie fühlte sich ganz schwindlig und atemlos.
Doch wie gewöhnlich war es nicht die Welle von Patriotismus, die sie erregte, sondern dessen Bedeutung, die Chance, die sie darin erblickte. Die Flüche, Drohungen und Parolen waren die Geburtsschreie einer neuen Nation. James prophezeite, weitere Baumwollstaaten würden dem Beispiel South Carolinas folgen. Bald werde auch eine neue Regierung aufgestellt, und er, Huntoon, werde eine wichtige Rolle dabei spielen. Es konnte sich nur noch um Wochen handeln, und dann würde ein lange geträumter Traum endlich Wirklichkeit. Die Macht würde ihr zu Füßen liegen und sie brauchte nur noch danach zu greifen.
Eine neue Serie von Feuerwerkskörpern tauchte ihr Gesicht in ein scharlachrotes Licht. Die Schwärmer schossen in den Himmel und explodierten über Sullivan Island, wobei sie die Wälle des Forts kurz erleuchteten. Sie verzerrte das Gesicht.
Dann tauchte hinter dem Phantasiebild von Billy Hazard plötzlich eine ihr vertraute Gestalt auf.
»Forbes!« Sie umklammerte ihren Sezessionshut und kämpfte sich die paar Meter zu ihm vor. »Forbes!«
»Mrs. Huntoon«, sagte er mit jener übertriebenen Höflichkeit, die er jedesmal, wenn sie sich in der Öffentlichkeit trafen, an den Tag legte. Er verneigte sich. Sie roch Whiskey und Männlichkeit. Ihre Erregung steigerte sich, aber jetzt war nicht der Zeitpunkt, um solchen Gelüsten nachzugehen.