Aber Joseph lernte auch sehr schnell, und das gefiel Giles. Joseph war Giles im letzten Sommer aufgefallen, als er gerade sein zweites Lehrjahr begann. Der Hochofen-Meister hatte damit geprahlt, wie geschickt Joseph an der Sandrinne arbeitete, von wo aus das glänzende geschmolzene Eisen in weitere kleine Wannen floß. Da Giles in der Eisenhütte der Dienstälteste war, hatte er keinerlei Schwierigkeiten, den Jungen in die Frischerei versetzen zu lassen. Hier mußte Joseph nun mit der langen Eisenstange gleichzeitig in drei oder vier Wannen arbeiten, damit das Roheisen einheitlich geschmolzen werden konnte. Joseph erwies sich als sehr geschickt, und bald ertappte Giles sich dabei, wie er ihm ein Kompliment machte.
»Du bist geschickt und hast das für dieses Gewerbe nötige Verständnis. Zudem bist du umgänglich, außer wenn – wie ich festgestellt habe – die andern dich wegen dem Beruf deines Stiefvaters hänseln. Nimm dir ein Beispiel an Herrn Archer. Zugegeben, er ist ein Dickkopf, aber er weiß auch, daß es manchmal besser ist, nachzugeben. Er verkauft seine Erzeugnisse mit einem Lächeln und mit liebenswürdigen Worten und zwingt seinen Kunden nichts auf.«
Im stillen war der alte Mann davon überzeugt, daß Joseph gar nicht zuhörte. Josephs Leben und Charakter hatten bereits starre Formen angenommen. Ohne Zweifel hatten ihn Lebensumstände und ungebildete Eltern zu einem Leben im Abseits verurteilt. Und doch ermutigte Giles Joseph weiterhin. Vielleicht deshalb, weil er älter wurde und sah, daß es nicht klug von ihm gewesen war, sein Leben lang Junggeselle zu bleiben. Er zeigte Joseph nicht nur, wie man Eisen herstellt, sondern vermittelte ihm auch das dazugehörige Wissen.
»Eisen regiert die Welt, mein Junge. Es bricht Erde auf und verbindet Kontinente – und auch Kriege werden damit gewonnen.« In Archers Öfen wurden Kanonenkugeln für Kriegsschiffe hergestellt. Giles wandte sein großflächiges Gesicht dem Mond zu und sagte: »Eisen kam von irgendwoher auf die Welt, von woher, weiß nur Gott. Schon in den frühesten Tagen der Menschheit kannte man Meteorsteine.«
»Was ist ein Meteor?« warf der Junge ein.
Giles lächelte. »Eine Sternschnuppe. Sicher hast du schon welche gesehen.« Der Junge nickte nachdenklich. Giles sprach von vielen Dingen, die nach und nach, je mehr Joseph vom Gewerbe lernte, an Bedeutung gewannen. Giles erzählte die Geschichte der Eisenherstellung. Er sprach vom Stück- und vom Flüßofen, die es seit dem 10. Jahrhundert in Deutschland gab, von den hauts fourneaux, die im 15. Jahrhundert in Frankreich aufkamen, und von den Wallonen, die vor etwa sechzig Jahren in Belgien das Wiedereinschmelzungsverfahren der Schlacken entwickelt hatten. »Doch all das ist bloß ein Ticken der großen Eisenuhr. Vor 700 Jahren hat der heilige Dunstan Eisen bearbeitet. Man sagt, er habe in seinem Schlafzimmer in Glastonbury eine Schmiede gehabt. Die ägyptischen Pharaonen wurden mit eisernen Amuletten und eisernen Dolchklingen begraben, weil das Metall so wertvoll, edel und mächtig war. Ich habe über Dolche aus Babylonien und Mesopotamien gelesen, die es bereits Jahrtausende vor Christus gegeben haben soll.«
»Ich kann nicht gut lesen.«
»Dann sollte es dir jemand beibringen, oder du solltest es selber lernen«, brummte Giles. »Ein Mann kann vieles durch Lesen lernen, Joseph, nicht alles, aber vieles. Ich meine, ein Mann, der nicht unbedingt Köhler werden möchte.« Joseph verstand und nickte ohne eine Spur von Ärger. »Kannst du überhaupt lesen?« fragte Giles.
»Ja, doch.« Schweigend blickte Joseph Giles an. »Nur ein bißchen«, schränkte er ein. »Meine Mutter versuchte es mir mit der Bibel beizubringen. Ich mag die Heldengeschichten über Samson und David. Aber Windom wollte nicht, daß Mutter mir das Lesen beibrachte, und so hörte sie damit auf.« Giles überlegte. »Wenn du jeden Abend eine halbe Stunde länger bleibst, könnte ich es versuchen.«
»Aber Windom …«
»Du mußt eben schwindeln«, unterbrach ihn Giles. »Wenn er fragt, warum du zu spät kommst, dann mußt du ihm eben eine Lüge auftischen. Das heißt, wenn du wirklich etwas werden willst. Wenn du nicht Köhler werden möchtest.«
»Glauben Sie, daß ich das kann, Meister Hazard?«
»Und du, glaubst du es?«
»Ja.«
»Dann wirst du’s können. Dem Mutigen gehört die Welt.«
Dieses Gespräch hatte im Sommer stattgefunden. Im Herbst und Winter unterrichtete Giles den Jungen. Und sein Unterricht war gut, so gut, daß Joseph dies seiner Mutter mitteilen mußte. Eines Abends, als Windom irgendwo herumpolterte, zeigte er ihr ein Buch, das er heimlich nach Hause genommen hatte. Es war ein sehr umstrittenes Buch mit dem Titel ›Metallum Martis‹. Verfasser war der jüngst verstorbene Dud Dudley, ein unehelicher Sohn des fünften Lord Dudley. Dud Dudley nahm für sich in Anspruch, Eisen erfolgreich durch Mineralkohle – oder Steinkohle – eingeschmolzen zu haben, wie Joseph seiner Mutter, zwar mit etlicher Anstrengung, aber doch mit Erfolg, vorlas. Ihre Augen glühten vor Bewunderung, doch dann erlosch der Glanz. »Lernen ist etwas Herrliches, mein Junge, aber es kann zu Hochmut führen. Jesus sollte der Mittelpunkt deines Lebens sein.« Joseph hörte dies nur ungern, aber er sagte nichts. »Es gibt nur zwei Dinge, die im Leben wichtig sind«, fuhr seine Mutter fort, »die Liebe zu Gottes Sohn und die Nächstenliebe. Die Liebe, die ich für dich empfinde«, sagte sie abschließend und drückte ihn plötzlich an sich. Er hörte ihr Weinen und fühlte, wie sie zitterte. Seit der Zeit des Mordens hatte sie resigniert und keine Hoffnungen mehr. Sie hoffte nur noch auf das Jenseits und glaubte nur noch an den Heiland und an ihren Sohn. Joseph hatte seine Zweifel. Er empfand Mitleid mit ihr, aber er mußte sein eigenes Leben leben. Bess erzählte Windom nichts von den Unterrichtsstunden. Sie konnte jedoch einen Anflug von Stolz nicht verbergen, was Windom zutiefst ärgerte.
An einem Sommerabend, nicht lange, nachdem der Streit darüber stattgefunden hatte, ob Joseph den Namen seines Stiefvaters annehmen würde, kam Joseph nach Hause und fand seine Mutter blutend, grün und blau geschlagen, beinahe bewußtlos auf dem schmutzigen Boden. Windom war weggegangen. Sie wollte nicht sagen, was geschehen war, und flehte Joseph so lange an, bis er versprach, seine Drohungen nicht wahrzumachen. Doch der Haß auf seinen Stiefvater wuchs in ihm.
Als die Hügel von Shropshire mit dem Nahen des nächsten Herbstes rot und golden leuchteten, hatte Joseph so große Fortschritte gemacht, daß Giles einen weiteren kühnen Schritt wagte.
»Ich werde mich mit Herrn Archer unterhalten und ihn darum bitten, daß er dir eine Stunde pro Woche mit dem Hauslehrer, der im Herrenhaus wohnt, erlaubt. Sicher wird er es gestatten, daß der Lehrer dir ein bißchen Mathematik und vielleicht sogar etwas Latein beibringt.«
»Weshalb sollte er, ich bin doch niemand.«
Der alte Giles lachte und strich Joseph übers Haar, bis es ganz zerzaust aussah. »Er wird sich darüber freuen, zu einem so redlichen Gesellen zu kommen, und dies praktisch ohne Kosten. Das ist mal eins. Zum andern ist Herr Archer ein anständiger Mensch. Es gibt nur wenige auf dieser Welt.«
Joseph glaubte ihm nicht, bis Giles ihm mitteilte, daß Herr Archer seine Einwilligung gegeben hatte. Als er an jenem Abend nach Hause rannte, vergaß er in seiner Freude und Aufregung seine sonst übliche Vorsicht. Über dem Fluß und den Hügeln lag schwerer Nebel, und er fröstelte, als er die Hütte erreichte. Windom war da, rußig und halb betrunken. Joseph, der sich so darüber freute, daß jemand ihm wohlgesinnt war, reagierte nicht auf die warnenden Blicke seiner Mutter und sprudelte mit der Neuigkeit heraus. Windom war nicht beeindruckt. »Um Himmels willen, weshalb sollte der junge Narr einen Lehrer brauchen!« Er blickte den Jungen voller Spott an, und Joseph hatte das Gefühl, als ob ein Schwert ihn durchbohre. »Er ist unwissend. Genauso unwissend wie ich.« Bess nestelte an ihrer Schürze herum. Sie war verwirrt und wußte nicht, wie sie aus der Falle herauskommen sollte.