Auch dort hatte sie sich einer beträchtlichen Gefahr ausgesetzt. Sie konnte die giftigen Blicke und die üblen Worte, mit denen man sie bedacht hatte, immer noch spüren und hören, als sie dem Korporal den Korb ausgehändigt hatte. Verräterin war der mildeste Ausdruck, den man ihr an den Kopf geworfen hatte.
»Mr. Rhett und seine Kollegen beklagen sich doch immer über den Pöbel im Norden«, sagte sie zu Judith, als sie sich wieder zu Hause in Sicherheit befand. »Ich würde meinen, daß wir hier in Charleston unseren eigenen Pöbel haben.«
»Ja, die Spannungen scheinen mit jedem Tag zuzunehmen«, pflichtete ihr Judith bei. Sie ergriff das kräftige Handgelenk ihres Sohns. »Judah, hör auf, damit herumzuspielen.«
Doch der Knabe pflatschte weiterhin mit seinem Löffel im Austerngericht herum. Auf der andern Seite des Tisches rutschte Marie-Louise unruhig auf ihrem Stuhl hin und her. »Mama, wird Papa heute abend wieder fortgehen?«
»Ja, er hat in letzter Zeit sehr viel zu tun.«
Die Blicke von Judith und Brett trafen sich kurz; beide verstanden die eben ausgesprochene Lüge. Es waren nicht geschäftliche Gründe, die Cooper dazu zwangen, in der Dunkelheit auf der James Island auszuharren. Schon seit Wochen waren die Bauarbeiten an der Star of Carolina eingestellt worden, und doch kehrte er Tag für Tag zur Werft zurück und blieb dort bis nach Mitternacht oder noch länger. Erschöpft und hohlwangig, benahm er sich wie ein gespenstischer Passagier, der nach einem Eisenbahnunglück immer wieder in den Trümmern herumwühlt, als ob er dort eine Erklärung finden könne. Brett machte sich ebenso viele Sorgen um ihren Bruder wie um Billy.
»Oh, du mußt dir unbedingt den New York Herald ansehen, den Cooper vorgestern mitgebracht hat«, sagte Judith. »Er berichtet über ein neues Stück, das in New York aufgeführt wird – über Fort Sumter. Sogar der Name des Schauspielers wird genannt, der die Rolle von Leutnant William Hazard spielt.«
»Du meinst, daß die Rollen nach den wirklichen Leuten benannt sind?«
»In der Tat. Anderson, Doubleday – sie sind alle dabei.«
»Ist das nun Kunst oder Geldgier?«
»Ich nehme an, eher das letztere«, erwiderte Judith.
Brett seufzte. Wie grotesk die Stadt und die Nation sich doch in nur wenigen Wochen verändert hatten! Schritt für Schritt waren die Amerikaner in eine Art vornehmen Wahnsinn hineingedriftet; alles war von nun an möglich. Doch am schlimmsten war, daß der junge Mann, den sie liebte, durch diesen Wahnsinn gefährdet war. Überall war man sich darüber einig, daß es schon bald nach Lincolns Präsidentschaftsantritt zum Krieg kommen würde. Beauregard würde den Batterien den Feuerbefehl erteilen, und die achtzig Mann auf Fort Sumter würden im Kanonenfeuer oder durch die Bajonetts und Musketen umkommen.
Brett hatte Alpträume deswegen; sie träumte davon, wie sie an Billys Beerdigung teilnahm. Sie hatte solche Angst vor diesen fürchterlichen Träumen, daß sie in letzter Zeit kaum noch schlafen konnte. Seit ihrem Auszug aus Mont Royal hatte sie beinahe sechs Kilo abgenommen; um ihre Augen zeichneten sich große, dunkle Ringe ab.
Sie nahm eine Schere, um den Artikel aus der Zeitung herauszuschneiden, als sie von einem zweimaligen Dröhnen aufgeschreckt wurde.
Mörser, dachte sie. Die Batterie von Mount Pleasant. Sie hatte sich bereits so daran gewöhnt, daß sie genau wußte, woher die Übungsfeuer kamen. Die meisten Einwohner von Charleston hatten in letzter Zeit dieses neue Talent entwickelt.
Als das Dröhnen in der Ferne verebbte, stieß sie einen leisen Schrei aus und bemerkte, daß sie die Schere fallen gelassen hatte. Ihre Handfläche war dabei verletzt worden, und sie hatte es nicht einmal gespürt. Blut trat aus und rann über ihr Handgelenk.
Das Blut, das Artilleriefeuer, die Erinnerung an den Betrunkenen, der sie verfolgt hatte, und die Schimpfworte, mit denen man sie auf dem Markt bedacht hatte, hatten ihr seelisches Gleichgewicht zerstört. »Billy«, flüsterte sie. Tränen strömten ihr über das Gesicht. »Billy.«
Sie preßte die blutende Hand auf den Mund und versuchte ihre Angst zu meistern.
»Du meinst, ihr verdammter Präsident mußte bei Nacht und Nebel nach Washington schleichen?«
»Ja, Sir. Er trug alte, abgetragene Kleider, genau wie sein Geheimpolizist Pinkerton. Sie sind mitten in der Nacht mit einem Schlafwagen eingetroffen. Wie Verbrecher!«
»Weshalb hat Lincoln nicht den normalen Zug benutzt?«
»Man sagt, daß er Angst hatte, ermordet zu werden. Wenn ich in der Nähe gewesen wäre, hätte ich das gleich besorgt – oh, guten Abend, Mr. Main.«
»’n Abend, die Herren.«
Cooper nickte den Herren angewidert zu. Es handelte sich um zwei Korporale der Artillerie von South Carolina, die unter dem Kommando von Major Evans auf James Island stand.
Cooper hatte das schadenfrohe Gespräch mitanhören können, als er von der Rückseite des Schuppens her kam, den die staatlichen Behörden auf seiner Werft aufgestellt hatten. Im Schuppen stand ein besonderer Ofen, mit dem während einer Bombardierung Brandgeschosse vorgewärmt werden sollten.
Tölpel, dachte Cooper, als er an den Männern und dem Schuppen vorbeistapfte. Die feuchte Nachtluft reizte ihn zum Husten. Auf Fort Sumter glühte ein blaues Signallicht. Wenn er dorthin blickte, dann war er wenigstens nicht gezwungen, das Kielschwein des unfertigen Schiffes ansehen zu müssen. Es kam ihm wie eine hämische Karikatur all seiner Träume vor, die er für den Süden gehegt hatte. Na ja, Brunei war es schließlich auch nicht anders ergangen. Der kleine Ingenieur hatte seine Träume ja auch begraben müssen.
Cooper bemerkte Lichter bei einer Mörserbatterie weiter unten am Strand. Er beschloß, nicht in dieser Richtung weiterzugehen. Er kauerte sich nieder, ließ Sand durch seine Finger rieseln und starrte in den Nebel über dem Meer.
Er stand vor einer Entscheidung. Mallory, der Marineminister, hatte aus Montgomery telegraphisch den Besuch von zwei Mitgliedern des Marineausschusses bei Cooper angekündigt. Die beiden würden am Vormittag eintreffen. Cooper wußte, was sie von ihm wollten.
Sein Lagerhaus. Seine Werft. Seine Schiffe.
Er fand, daß die neue Regierung irregeleitet war, in einem tragischen Irrtum befangen.
Weshalb zermarterte er sich dann auch noch eine Sekunde lang das Hirn und fragte sich, welche Antwort er den Besuchern geben wollte? Er kannte die Antwort.
Er rang mit sich selbst, weil die Loyalität seinem Staat gegenüber ihm keine Ruhe ließ und hartnäckig wie eine Ozeanwelle immer wieder an ihm zerrte. Er haßte seinen Zwiespalt, war jedoch machtlos, etwas dagegen zu tun.
Er stand auf und kehrte zum Schuppen zurück. Sein Magen knurrte, und er erinnerte sich daran, daß er seit dem Frühstück nichts mehr gegessen hatte. Aber er hatte keine Lust mehr auf Essen, er war überhaupt an nichts mehr interessiert und quälte sich nur noch mit der bevorstehenden Entscheidung herum. Was sollte er tun?
Nein, das war nicht die richtige Frage. Jeder einigermaßen vernünftige Mann sollte den Süden verlassen, solange es noch Zeit dafür war. Er mußte die Frage anders formulieren. Was würde er tun?
Bis morgen früh mußte er sich entschieden haben.
»Rex, worüber habt ihr eben geflüstert?« Ashton war gerade an der Speisekammer vorbeigegangen und hatte gehört, wie der Sklave und der ältere Hausbedienstete sich aufgeregt miteinander unterhalten hatten.
Der Junge trat einige Schritte vor seiner Herrin zurück. »Hab’ nichts geflüstert, Miz’ Huntoon.«
»Verdammter Niggerbalg, ich habe dich gehört. Ich habe ganz genau das Wort Linkum verstanden.«
Rex schluckte. »Linkum? Nein, Ma’am, ich schwöre, daß ich nie und nimmer – «