Sie stand in den langen Schatten der Nachmittagssonne und stützte sich auf das Treppengeländer. Ihre Bewegungen waren lebhafter als gewöhnlich, als sie zwei Stufen hinunterstieg. Plötzlich überfiel ihn Angst. War das Laudanum in letzter Zeit durch irgendein Mißgeschick zu schwach dosiert worden?
Sie klammerte sich mit weißen Händen an das Treppengeländer und stieg eine weitere Stufe hinunter – dann noch eine. Ihr Mieder aus schwarzer Seide hob und senkte sich; sie mußte sich offensichtlich stark anstrengen. Ihre von tiefen Schatten umrahmten Augen waren ekelerfüllt.
Die Situation erlaubte keinerlei Nachgiebigkeit. Justin marschierte zur Mitte der Eingangshalle, wo er sich mit gespreizten Beinen postierte und die Daumen über dem Gürtel in die Hose steckte. »Hast du unsere Gäste belauscht?« Die Frage enthielt eine unverhüllte Drohung.
»Nicht absichtlich. Ich«, ihre Stimme wurde kraftvoller, »ich wollte gerade ins Nähzimmer gehen. Worüber habt ihr euch unterhalten, Justin? Wen wollen sie töten?«
»Niemanden.«
»Ich habe den Namen Hazard gehört.«
»Das hast du dir nur eingebildet. Geh auf dein Zimmer.«
»Nein.«
Sie stieg zwei weitere Stufen hinunter und schloß die Augen; ihr Atem ging mühsam und ruckweise. Auf ihrer bleichen Stirn glänzten Schweißperlen. Er sah, daß sie immer noch gegen die Wirkung des Medikaments kämpfte.
»Nein«, wiederholte sie. »Nicht, bis du mir eine Erklärung gegeben hast. Sicher habe ich irgend etwas falsch verstanden. Du wirst wohl nicht deinen eigenen Neffen als Mörder gedungen haben.«
Panik überwältigte ihn. Unbesonnen schrie er: »Du verdammte Hure! Geh auf dein Zimmer! Und zwar sofort!«
Wiederum schüttelte Madeline den Kopf und nahm ihre ganze Kraft zusammen, um langsam und schwerfällig den Rest der Treppe zu bewältigen. »Ich gehe«, sagte sie.
Für die nächsten zwei Stufen brauchte sie beinahe volle zehn Sekunden. Es wurde ihm klar, daß er dumm gewesen war, in Panik zu geraten. Sie war viel zu schwach, als daß sie irgend etwas hätte unternehmen können. Es gelang ihm, sich etwas zu entspannen und einen belustigten Blick aufzusetzen.
»Ah ja? Und wohin willst du denn gehen?«
»Das«, sie fuhr sich mit einem zerknüllten Taschentuch über die Stirn, »geht dich nichts an.«
Unmittelbar nachdem Justin den Namen Hazard ausgesprochen hatte, war Madeline bewußt geworden, wie verzweifelt dringlich die Situation war. Nun, da sie sich unten an der Treppe befand, hörte sie, wie Pferde auf dem Torweg davonritten. Die Angst gab ihr neue Kraft, und sie konnte die fürchterliche Lethargie überwinden. Sie torkelte zum Eingang. Justin machte einen Schritt zur Seite und versperrte ihr den Weg.
»Laß mich bitte durch.«
»Ich verbiete dir, dieses Haus zu verlassen.«
Seine Stimme klang nun grell – der endgültige Beweis dafür, daß das Komplott eine Tatsache war. In Mont Royal sollte jemand ermordet werden. Der Grund war ihr unbekannt, aber sie wußte, daß sie versuchen mußte, diesen Mord zu verhindern.
Sie machte einen Bogen um ihren Gatten. Justin ballte die Hand zur Faust, machte eine leichte Drehung nach links und versetzte ihr einen Schlag auf die Schläfe. Schreiend fiel sie hin.
Sie lag auf dem Boden und starrte ihn eine Weile, die ihr wie eine Ewigkeit vorkam, benommen an. Schwer atmend stützte sie sich auf die Hände, stand auf und versuchte erneut, die Eingangshalle zu durchqueren.
Wieder schlug Justin zu. Diesmal schlug sie mit dem Hinterkopf auf die Kante der Kirschholztruhe auf – ein harter, schmerzhafter Aufprall. Ihr Schrei war markerschütternd. Mühsam stützte sie sich auf ein Knie und versuchte verzweifelt aufzustehen.
Eine Tür wurde geöffnet. Zwei schwarze Gesichter spähten in die Halle, als sich Justin drohend über Madeline beugte. »Wenn du darauf beharrst, dich wie ein starrköpfiges Tier zu benehmen, wirst du auch als solches behandelt.« Er versetzte ihr einen heftigen Tritt unter die linke Brust.
Madeline fiel erneut gegen die Truhe, die gegen die Wand prallte. Der Säbel an der Wand rasselte. Verzweifelt schnappte Madeline nach Luft. Tränen schossen ihr in die Augen, und sie sah alles wie durch einen Schleier hindurch.
Justin drehte sich ruckartig um und eilte durch die Halle. »Verdammt noch mal, was gafft ihr hier herum? Verschwindet, oder ich zieh’ euch die Haut ab!«
Die zu Tode erschrockenen Sklaven machten sich aus dem Staub. Madeline sah inzwischen wieder etwas klarer. Sie hielt sich an der Truhe fest und zog sich mit letzter Willensanstrengung hoch.
Justin drehte sich um, sah, daß sie wieder auf den Füßen stand, und begann laut zu fluchen. Sie hörte hinter ihrem Rücken das Stakkato seiner Stiefelabsätze; mit den gemeinsten Flüchen stürzte er auf sie los. Mit übermenschlicher Anstrengung riß sie den Säbel von der Wand, wirbelte herum und schlug zu.
Die scharfe Klinge riß ihm das Gesicht von der linken Augenbraue bis zum Unterkiefer auf. Einen Augenblick lang klaffte die Wunde und ließ das Fleisch sichtbar werden, dann schoß das Blut hervor; es lief ihm über die Wange und tropfte auf sein Seidenhemd.
Er preßte die eine Hand auf die Wunde. »Du gotterbärmliche Hure du!« und raste auf sie los.
Sie schleuderte den Säbel fort und trat instinktiv einen Schritt zur Seite. Er konnte den Schwung seines Körpers nicht mehr bremsen und prallte Kopf voran gegen die Wand. Langsam sank er in die Knie – wie in einem schlechten Schauspiel. Das blutende Gesicht auf der Brust, stöhnte er vor sich hin.
Zwei andere Sklaven, vom Lärm angezogen, standen unter dem Türrahmen. »Ezekiel, komm mit mir. Ich brauche den Wagen.« Sie zeigte auf den zweiten Schwarzen. »Du kümmerst dich um Mr. LaMotte.«
Zwei Minuten später lenkte sie den Wagen durch den Torweg in Richtung Fluß.
»Jung. Jung hat er gesagt.«
Das linke Hinterrad des Wagens knallte in ein tiefes Loch, und sie wurde beinahe vom Sitz geschleudert. Als sie an Six Oaks vorbeiraste, konnte sie nur knapp verhindern, daß der Wagen nicht im Straßengraben landete. Die frische Luft hatte ihre Sinne ein wenig geschärft, und sie hatte nun einen klareren Kopf. Es war ihr eben in den Sinn gekommen, daß ihr Gatte eine Anspielung auf den jungen Mr. Hazard gemacht hatte. Das Opfer mußte also der Bruder von George sein. Das hieß, daß er das Fort im Hafen von Charleston verlassen hatte; aber wo war er nun?
Sonnenbeschienene Bäume flogen an ihr vorbei. Der Wind peitschte ihr Gesicht. Sie war wirklich erzdumm gewesen, so lange bei Justin zu bleiben. Monat um Monat war ihre Widerstandskraft durch eine ihr rätselhafte Erschöpfung unterminiert worden, und zuvor war es ihr falsches Ehrgefühl gewesen, das sie in Resolute zurückgehalten hatte.
Aber der Mann, dem sie sich durch die Heirat verpflichtet hatte, kannte das Wort Ehre nicht – genau wie die meisten Mitglieder seiner Familie. Bis zu diesem Nachmittag war Madeline jedoch nicht klargeworden, wie niederträchtig sie wirklich waren.
Sie hatte am oberen Treppenabsatz gestanden, hatte nach unten geschaut und bemerkt, daß ein junger Sklave Forbes eine Nachricht zugeflüstert hatte. Der Junge lebte nicht in Resolute; er mußte also von jemand anders hergeschickt worden sein, und zwar mit einer Mitteilung, auf die Forbes ungeduldig wartete.
Dann war Justin mit dem jungen Smith in ihr Blickfeld getreten. Zuerst hatte sie geglaubt, es handle sich um irgendeinen derben Spaß. Als sie jedoch die rohen Worte hörte und den Gesichtsausdruck der drei sah, wußte sie, daß die Anspielung auf den Mord wörtlich zu verstehen war.
Nun hoffte sie, den jungen Mr. Hazard in Mont Royal anzutreffen. Sie betete inbrünstig, daß – solle dies nicht der Fall sein – er rechtzeitig gefunden und gewarnt werden könnte. O Gott, sie hätte Justin wirklich schon vor langer Zeit verlassen und Orry heiraten sollen.
Die kühle Luft belebte ihren Körper und Verstand. Die Nadeln und Perlmutterkämme, mit denen sie das Haar hochgesteckt hatte, lösten sich, und lange, schwarze Strähnen wehten im Wind. Der feurige Wallach, der den offenen Wagen mit halsbrecherischer Geschwindigkeit hinter sich herzog, war bereits schweißbedeckt.