»Virgilia ist nach Hause gekommen.«
Orry hätte beinahe die Kaffeetasse fallen gelassen. »Von wo?«
»Das«, knurrte George, »wollen wir lieber nicht fragen.«
»Ist sie heute abend hier?«
George nickte, und Orry erinnerte sich daran, daß bei seiner Ankunft eine Türe einen Spaltbreit geöffnet und dann wieder geschlossen worden war. Hatte Virgilia ihn gesehen?
Nun, eigentlich spielte es keine Rolle. Obwohl er unten in der Stadt einige elementare Vorsichtsmaßnahmen ergriffen hatte, hatte er nicht die Absicht gehabt, seinen Besuch total geheim zu halten.
»Das arme Geschöpf ist völlig mittellos – « wollte Constance anfangen, aber George unterbrach sie.
»Es ist ihre eigene Schuld. Ich möchte nicht darüber reden.« Seine Frau wandte ihren Blick ab. George wandte sich Orry zu: »Nun sag mir, welch wichtiges Geschäft dich dazu bringen konnte, die lange Reise hierher auf dich zu nehmen? Die Star of Carolina wird doch wohl nicht zum Stapellauf bereit sein?«
»Ich wünschte mir, daß das der Fall wäre. Aber ich glaube nicht, daß das Schiff die Werft jemals verlassen wird. Deshalb bin ich gekommen und habe die Tasche mitgebracht, die draußen in der Halle steht. Sie enthält sechshundertfünfzigtausend Dollar. Ich bedaure, daß es nicht mehr ist, aber das ist alles, was ich auftreiben konnte.«
»Auftreiben? Wie auftreiben?«
»Ach, das spielt keine Rolle. Ich wollte nicht, daß das Kapital, das du investiert hast, im Süden blockiert und schließlich konfisziert wird. Das war ja nicht Sinn und Zweck deines Darlehens.«
George runzelte die Stirn, warf seiner Frau einen Blick zu und blickte dann seinen Freund an. »Vielleicht sollten wir das in der Bibliothek besprechen?«
»Komm, Billy«, sagte Constance und fuhr ihrem Sohn, während sie aufstand, über den Kopf.
»Billy.« Orry lächelte. »Nennst du ihn so?«
Sie nickte. »Wenn Georges Bruder zu Hause ist, dann ist er Big Billy und William ist Little Billy. Manchmal ist es etwas verwirrend, aber wir mögen es so.«
William schnitt eine Grimasse. »Nicht wir alle.«
»Er hat recht«, sagte Constance und versuchte ein ernstes Gesicht zu machen. »Stanley findet es entwürdigend.«
»Und deshalb finden wir es gut«, sagte George und stand auf. Orry brach in ein spontanes, herzliches Lachen aus. Für einen kurzen Augenblick waren die alten Zeiten fast wieder gegenwärtig.
»Du sagst also, daß Billys Wunde gut heilt?« fragte Orry, als George die Tür schloß und das Licht anzündete.
»Ja, das hat man mir gesagt. Er und Brett sind glücklich, auch wenn rundum alles in Aufruhr ist.« Er machte sich auf die Suche nach Gläsern und einer Karaffe. »Ich glaube, wir könnten einen Whiskey gebrauchen.«
Er schenkte zwei Gläser ein, ohne zu fragen, ob Orry seine Meinung teilte. Immer noch derselbe alte Stumpf, dachte Orry. Er hat einfach jede Situation im Griff.
»Ja, unser Land befindet sich wirklich in einer schlimmen Lage«, stimmte Orry seinem Freund zu und nahm den Whiskey entgegen. Er trank die Hälfte des Glases in zwei Schlucken leer. Die Wärme breitete sich in seinem Magen aus und beruhigte ihn etwas. Er suchte den Schlüssel zur Tasche, die er aus der Halle mitgenommen hatte, öffnete das Schloß und machte die Tasche weit auf, damit die großen Banknoten zu sehen waren. »Wie ich dir schon gesagt habe – das ist der Grund, weshalb ich gekommen bin.«
George nahm ein Päckchen der gebündelten Noten in die Hand; für eine Weile war er sprachlos. Dann sagte er mit sanfter Stimme:
»Das ist eine sehr ehrenwerte Tat, Orry.«
»Das Geld gehört dir. Ich glaube, du hast es eher verdient als die Regierung in Montgomery, die, Spaß beiseite, mit zuverlässigen und eher konservativen Männern bestückt worden ist.«
»Ja, das hab’ ich auch festgestellt. Jeff Davis. Alec Stephens aus Georgia – «
»Die Kandidaten aus South Carolina, unter ihnen unser gemeinsamer Freund, der junge Hitzkopf«, George schnitt eine Grimasse, als Orry auf Huntoon anspielte, »sind praktisch völlig ignoriert worden. Sie freuen sich nicht besonders darüber.«
»Weshalb hat man sie nicht beachtet?«
»Ich weiß es nicht genau. Ich vermute, die Konservativen fanden sie zu extremistisch. Wahrscheinlich befürchteten sie, daß sie dem Ansehen der neuen Regierung schaden könnten. Wie dem auch sei, ich wollte es auf jeden Fall vermeiden, daß Männer, deren Grundsätze nicht unbedingt mit den deinigen übereinstimmen, dein Geld beschlagnahmen.«
George sah ihn kritisch an. »Stimmen ihre Grundsätze denn mit den deinigen überein?«
»Der Teufel soll mich holen, wenn ich das noch weiß. Stumpf.«
Er setzte sich auf einen Stuhl. George ließ das Schloß der Tasche zuschnappen und setzte sich neben den Tisch, auf dem immer noch der Meteorit stand. Gedankenverloren nahm George das dunkelbraune Stück in die Hände und sagte: »Nun, wie ich bereits sagte, du hast etwas außerordentlich Ehrenvolles getan, Orry.«
Verlegen prostete Orry seinem Freund zu. Dann erlosch sein etwas melancholisches Lächeln, und er deutete auf den rauhen Gegenstand in Georges Händen.
»Ist das der gleiche, den du auf den Hügeln oberhalb der Akademie gefunden hast?«
»Ja.«
»Das dachte ich mir. Ich erinnere mich noch vage an das was du damals sagtest. Irgend etwas über das Eisen der Sterne, das die Macht hat, Familien, Reichtum, Regierungen – die ganze angestammte Ordnung der Dinge zu zerstören. Ich glaube, es wird sich demnächst zeigen, ob das zutrifft. Du hast von Ehre geredet. Die Menschen haben verdammt wenig davon, und«, seine Stimme wurde leiser und nahm einen beinahe höhnischen Ton an, »vielleicht einmal in einem Jahrhundert taucht ein bißchen bei Nationen, politischen Parteien und Bewegungen auf, die dann ihren heiligen Krieg führen. Aber wenn der Krieg demnächst ausbricht, dann werden Fabriken wie die deinige dafür verantwortlich sein, daß noch das letzte bißchen Ehrgefühl unter den Menschen ausradiert wird. Cooper weiß das schon seit langem. Er hat es uns immer wieder gesagt, aber wir wollten nicht auf ihn hören. Wenn es einen Krieg gibt – und es sieht verdammt danach aus, – so wird es ein neuartiger, ein totaler Krieg sein, wie Mahan ihn vorausgesagt hat. Nicht nur die Soldaten werden dabei ihr Leben lassen; alles wird vernichtet werden.«
Er schüttelte den Kopf. Die Erschöpfung von der Reise und der hastig getrunkene Whiskey lösten in seinem Kopf ein merkwürdiges Gefühl leichter Benommenheit aus; seine Gedanken strömten frei und fanden wie von selbst die Worte, um ihnen Ausdruck zu verleihen. »Und worauf kann sich der Süden für diese Art von Kampf stützen? Auf eine Zukunftsvision, die bereits hoffnungslos veraltet ist. Auf unsere Redegewandtheit. Auf unsere Parolen – und – auf unsere Soldaten.«
»Vergiß nicht, daß die Offiziere aus dem Süden die Elite der Armee bilden.«
»Zu Befehl«, sagte Orry nickend. »Und wer wird ihre Befehle ausführen? Eine Menge hartgesottener Farmer, die, obwohl sie noch nie etwas von Mahan oder Jomini gehört haben oder ironischerweise nie auch nur einen einzigen Sklaven besessen haben, kämpfen werden wie der Teufel. Aber gegen wen werden sie kämpfen? Gegen ein Riesenheer aus dem Norden. Gegen Millionen und Abermillionen von Bürokraten und Mechanikern. Gegen eure infernalischen Fabriken.« Er war jetzt kaum noch zu hören, als er sagte: »Ein neuartiger Krieg…«
Orry schwieg einen Augenblick lang und fuhr dann schließlich fort: »Egal, wie es auch immer herauskommen mag, egal, welche Seite die Bedingungen diktieren wird – wir werden alle zu den Verlierern gehören. Wir haben abgedankt, George, und Verrückten den Thron überlassen.«
Er warf den Kopf in den Nacken und kippte den Rest des Whiskeys hinunter. Dann schloß er die Augen und schüttelte sich. Langsam und sorgfältig stellte George den Meteoriten auf den Tisch zurück und starrte ihn an.