Ein andrer Mann schwenkte eine rauchende Fackel. »Wir wollen ihn haben!«
George straffte die Schultern. Er sah kampffreudig und kraftvoll aus, als er den Colt hob und den Arm ausstreckte. Er richtete die Mündung auf den Kopf des Mannes, der eben gesprochen hatte, und krümmte den Daumen über dem Abzug.
»Hol ihn dir. Ich garantiere aber, daß du und einige deiner Kumpanen den Versuch nicht überleben werdet.«
Orry trat links neben seinen Freund, nur ein paar Fuß weit von den Männern auf der Treppe. Er glaubte zwei der vor dem Hotel herumlungernden Gestalten zu erkennen.
»Los, auf ihn!« schrie jemand.
George richtete den Colt auf ihn. »Komm doch! Es gibt einen alten militärischen Grundsatz: Wer den Befehl erteilt, führt den Angriff auch an!«
»Verdammt noch mal, Hazard«, schrie ein andrer, »er ist ein Südstaatler. Ein Mann aus dem Palmettostaat. Wir wollen ihm nur zeigen, was wir von Sezessionisten – von Verrätern, halten.«
»Dieser Gentleman ist kein Verräter. Wir haben beide im selben Jahr in West Point abgeschlossen und haben unter General Scott die ganze Kampagne bis nach Mexiko-City mitgemacht. Mein Freund hat ebenso hart für dieses Land gekämpft wie ich, und jener leere Ärmel zeigt euch, was seine Belohnung war. Ich kenne die meisten von euch, und ich möchte nicht, daß auch nur ein einziger durch meine Hand umkommt. Aber wenn ihr einem Ehrenmann wie ihm ein Leid antun wollt, dann müßt ihr zuerst mich beseitigen.«
Der Pöbel wurde etwas ruhiger. Orry sah, wie Blicke von Georges Colt über die Tür wanderten. Einige Männer überlegten sich offensichtlich, wie sie ihn und George in die Zange nehmen und dann überwältigen könnten. Zwei Gestalten lösten sich von der Gruppe, aber George nahm sie sofort ins Visier.
»Den ersten, der noch einen Schritt macht, erschieße ich.«
Die beiden Männer blieben stehen. Fünf Sekunden. Zehn Sekunden. Fünfzehn ...
»Wir können sie überwältigen«, rief eine Stimme. Keine Antwort. Orrys Herz hämmerte. Alles war möglich…
»Zum Teufel«, sagte jemand. »Es lohnt sich nicht, dafür zu sterben.«
»Das nenne ich gesunden Menschenverstand«, sagte George in einem immer noch etwas pathetischen Tonfall. »Wenn der Rest ebenso denkt, könnt ihr gehen. Achtet bloß darauf, daß ihr euch von der Tür entfernt, den Hügel hinuntergeht und von meinem Grundstück verschwindet.« Er legte eine Kunstpause ein und schrie mit seiner besten West-Point-Stimme: »Verschwindet!«
Sie reagierten auf den Befehl und auf die Bedrohung mit dem Colt. Vereinzelt und in Grüppchen schlurften sie davon und hinterließen bloß noch einige Flüche.
Eine Minute verstrich. Eine weitere. George und Orry blieben bei der Tür stehen, für den Fall, daß es sich der Pöbel wieder anders überlegen könnte. Schließlich ließ George den Colt sinken und lehnte aufatmend gegen eine Säule.
»Das hätte ins Auge gehen können«, sagte er sanft. »Aber wir sind noch nicht auf dem Trockenen. Hol deinen Koffer, und ich schicke jemanden los, um die Kutsche zu holen. Je schneller du deinen Zug erwischst, desto besser.«
Orry erhob keinen Einwand.
Einer der Diener betätigte sich als Kutscher, der andere ritt neben der Kutsche her. Beide waren bewaffnet. George ebenfalls. Er hatte bereits veranlaßt, daß der Diener, der Virgilias Botschaft überbracht hatte, gesucht werden sollte. Der Mann würde entlassen werden.
George und Orry waren immer noch erschüttert über das Ereignis. George saß schweigend und in nachdenklicher Stimmung da, während die Kutsche den Hügel hinunterholperte. Schließlich fragte ihn Orry: »Worüber denkst du nach?«
»Über diese schrecklichen Zeiten. Wir hätten dies alles vermeiden können, wenn wir mit dem Guten, das in uns allen ist, reagiert hätten. Aber statt dessen haben wir mit dem Bösen in uns reagiert. Mit dem Schlimmsten. Ich frage mich, ob wir überhaupt zu etwas anderem fähig sind.«
Erneutes Schweigen. Orry versuchte die düstere Stimmung etwas zu heben, indem er seinem Freund erzählte, wofür er bis jetzt noch keine Gelegenheit gefunden hatte – daß Madeline nun endlich bei ihm war und bei ihm bleiben würde. Sie hatten vor, einen Rechtsanwalt zu konsultieren und die Scheidung einzureichen, sobald die düsteren Wolken am Horizont verschwunden waren.
»Das ist herrlich. Schön«, murmelte George, als die Kutsche an einigen abgelegenen Häusern vorbeifuhr. Sein ständig umherwandernder Blick flog über schattige Veranden, erleuchtete Fenster und über die Straße. Plötzlich lehnte er sich vor. Vor ihnen waren vier Männer im Licht der Hotel- und Bahnhofslampen auf die Straße getreten und warteten auf die Kutsche.
»Aufgepaßt, ihr beiden!« schrie George seinen Männern zu.
Keuchend rannte Virgilia über den Pfad, der auf den Hügel hinter Belvedere führte. Sie wagte es nicht, in die Stadt zu fliehen, wo sie vielleicht George begegnen würde.
Dornen rissen an ihren Kleidern und zerstachen ihr die Hände, in denen sie eine riesengroße, vollgestopfte Reisetasche hielt. Sie war zwar eine kräftige Frau, vermochte aber trotzdem die Tasche kaum zu schleppen. Jedesmal, wenn sie gegen ihr Bein schlug, war ein klirrendes Geräusch zu hören.
Sie war einmal zu oft zur Villa zurückgekehrt. Das war ihr jetzt völlig klar. Nie wieder würde sie auch nur einen Fuß nach Lehigh Station setzen.
Wozu auch? Sie haßte die ganze Familie. Den aufgeblasenen kleinen George und den selbstgefälligen Stanley, ihre Ehefrauen und ihre Kinder mit der ach so kostbaren weißen Haut. Sie verstanden überhaupt nichts von dem Kampf, der in der Welt draußen geführt wurde. Sie behaupteten zwar das Gegenteil, aber sie hatten ja keine Ahnung, wie mühsam und grausam das alles war. Wohlgenährte Heuchler waren sie, alle.
Ihre lauten, raschen Atemzüge klangen wie Schluchzer. Plötzlich strauchelte sie und fiel hin. Aber die Tasche ließ sie nicht für eine Sekunde los.
Sie stand wieder auf und hastete weiter den steilen Hügel hinauf, als hätte sie eine ganze Schar von Verfolgern auf den Fersen. In dem Moment, als George sie wortlos angeblickt hatte, war ihr klargeworden, daß sie fliehen mußte.
Schultern und Oberarme taten bereits entsetzlich weh. Sie hatte die Tasche zu voll gestopft, bevor sie das Haus verließ: Kerzenhalter, Silber, Kleidungsstücke aus der Garderobe von Constance und einige ihrer kostbarsten Juwelen – alles Gegenstände, die Virgilia gut verkaufen konnte, um Geld zum Leben zu haben.
Sie betrachtete es nicht als Diebstahl, sondern fand, daß es ihr rechtmäßig zustand. Stanley und George hatten sie immer erniedrigt, weil sie eine Frau war. Und als sie sich in einen Schwarzen verliebt hatte, war ihre Verachtung nur noch stärker geworden. Eines Tages würde sie es ihnen heimzahlen, gelobte sie sich, als sie den Hügel hinaufkeuchte. Allen würde sie es heimzahlen.
Die Kutsche rollte auf die wartenden Männer zu, die in der Mitte der Straße stehenblieben. George berührte den Kutscher am Arm.
»Halt nicht an und fahr auch nicht um sie herum. Gib mir deinen Colt.«
Der Kutscher gab George seine Waffe. Während etwa einer halben Minute war nur das Geklapper der Hufe und das schwache Quietschen der Hinterachse zu vernehmen. George hielt den Atem an und hob die beiden Revolver hoch, so daß sie gut sichtbar waren.
Als der Zaum des Pferdes noch einen knappen Meter von den schweigenden Männern entfernt war, traten sie beiseite.
Orry erkannte im Zwielicht zwei der Männer, die vor Belvedere seinen Kopf gefordert hatten. Der eine spuckte auf die Straße und starrte dabei Orry ins Gesicht. Doch Orry fühlte keine Wut mehr, er war zu erschöpft, um zu reagieren. Die Kutsche rollte weiter.