Der Regen ging in Nieselregen über. Langsam ratterte der Zug durch die sumpfigen Landstriche des District of Columbia. Auf einem von Unkraut überwachsenen Feld sah Orry eine Armeeeinheit beim Exerzieren. Es standen vereinzelt einige Laternen herum, aber die dunklen Gestalten waren hauptsächlich deshalb zu erkennen, weil irgendwo in der Ferne eine ihm unbekannte Lichtquelle gespenstisch glühte. Er sah ganze Reihen von Bajonetten auf Gewehrläufen; eines der Bajonette blitzte kurz wie ein Stern auf. Die Soldaten exerzierten im Regen. Kein Wunder wurden so viele Anstrengungen gemacht: Washington befand sich jetzt in einer verwundbaren Position. Auf der andern Seite des Potomac lag Virginia – jetzt feindliches Territorium.
Wo mochte Lee sein? Wo einige von Orrys alten Kameraden aus Mexiko? Der kleine McClellan, den er beneidet, aber nie gemocht hatte? Jackson, der am Militärinstitut von Virginia Kadetten unterrichtete? Der flotte George Pickett, der ein so guter Soldat war und so selten ernst? Ach, wie gerne hätte er einige von ihnen wiedergesehen!
Aber nicht auf einem Schlachtfeld. Nicht wenn ihr Wiedersehen von einander feindlich gesinnten Generälen organisiert würde. Männer, die einander an der Akademie wie Brüder nahegestanden waren, planten unter Umständen gerade in diesem Augenblick ihre gegenseitige Vernichtung. Das Unvorstellbare war also doch Wirklichkeit geworden.
Das blinde Marschieren dieser namenlosen Einheit schien ihm der schlagendste Beweis dafür zu sein – eine Vision von finsteren, seelenlosen Gestalten, von messerscharfem, blitzendem Stahl. Die Kriegsmaschinerie lief schon auf Hochtouren. Gott helfe uns allen, dachte er.
An jenem Abend fiel ein leichter Regen in der Tradd Street. Cooper schrieb einen Brief, über den er schon seit einer Weile nachgedacht hatte. Als er damit zu Ende war, suchte er seine Frau. Judith hatte eben die Kinder zu Bett gebracht. Mit dem zunehmenden Kriegsfieber im ganzen Staat waren Judah und Marie-Louise überreizt und wollten immer zu lange aufbleiben.
Ohne Umschweife teilte Cooper Judith seine Entscheidung mit. Judith verharrte einen Augenblick in bestürztem Schweigen. Dann:
»Ist es dir ernst?«
»Ich habe den Brief bereits geschrieben, wie es die Herren von mir verlangt haben. Morgen schicke ich ihn nach Montgomery. Nach dem ersten Mai wird das ganze Vermögen der Carolina Shipping Company, einschließlich unsrer Schiffe, der Marine gehören.«
Kopfschüttelnd setzte sie sich. »Wie kannst du mit deiner Überzeugung und deinen Ansichten eine solche Entscheidung treffen?«
»Neutralität ist der Ausweg des Feiglings. Entweder unterstützen wir den Krieg – oder wir ziehen in den Norden. Die Sezession ist ein Fehler, und das System, das dazu geführt hat, ist ein noch schlimmeres Übel. Ich glaube, daß wir bestraft werden. Zermalmt. Und doch – «, ein sorgenvoller Blick, eine zögernde Handbewegung »fühle ich eine gewisse Loyalität, Judith.«
Sie blickte ihn skeptisch an. Er holte tief Atem. »Ich habe noch etwas mit den Mitgliedern des Ausschusses besprochen, von dem du noch nichts weißt. Sie haben mich gebeten, nach London zu gehen. Als Agent der Marine.«
»London? Weshalb?«
»Weil ihnen klar ist, daß die Konföderation ohne Lebensmittel und Güter von andern nicht wird überleben können. Auch Mr. Lincoln weiß das. Die Yankees werden bestimmt die Blockade als Waffe gegen uns benützen. Und dann müssen wir zu einem Gegenschlag ausholen können. Ein Schiff wie die Star of Carolina – «
»Wovon zum Teufel redest du?« rief Judith aufgebracht. »Sie wird niemals in See stechen!«
»Ich habe gesagt: ein Schiff wie sie, das in der Lage ist, schweres Geschütz zu befördern. Ein Kriegsschiff. Ein Handelsschiff. Ein Schiff, das auf allen Meeren herumfahren und der Schifffahrt der Yankees beträchtlichen Schaden zufügen würde.« Er warf seiner Frau einen kurzen Blick zu. »Weil ich hier in Charleston Erfahrungen gesammelt habe, möchte die Marine, daß ich in Großbritannien die Möglichkeiten…«
»Das heißt, daß wir die Kinder mitnehmen müssen?«
»Und ein Jahr oder vielleicht länger bleiben müssen.«
»Ach Cooper, das können wir doch nicht! Wir kämpfen für eine falsche Sache!«
»Und haben den Kampf vielleicht schon verloren«, sagte er mit einem Kopfnicken. Da tauchte eine flammende Vision von Hazard-Eisen vor seinem geistigen Auge auf. »Und doch habe ich das Gefühl, ich muß gehen, obwohl ich dir meine Beweggründe nicht ganz oder auch nur einigermaßen erklären kann. Nein, ich will ganz ehrlich sein: Ich möchte gehen.«
Sie blickte ihn prüfend an. »Einverstanden. Ich hasse zwar das ganze und begreife deine Logik keineswegs – wenn überhaupt Logik dahintersteckt –, aber du weißt, daß ich dich nie im Stich lassen würde. Ich schlage vor, daß du die Überfahrt auf dem Dampfer buchst.«
»Hab’ ich bereits getan. Freitag in einer Woche schiffen wir uns im Hafen von Savannah ein.«
Er nahm sie in die Arme und hielt sie umschlungen, während sie weinte.
Am nächsten Morgen sorgte er dafür, daß auf der James-Island-Werft ein großer Eisenmast aufgestellt wurde. Als der Flaschenzug und die Taue bereit waren, sah er zu, wie zwei seiner Männer eine Riesenflagge entfalteten. Sie bestand aus drei waagrechten, breiten Streifen; der obere und der untere waren rot, der mittlere weiß. In der oberen linken Hälfte war ein Kreis aus sieben weißen Sternen auf tiefblauem Grund.
Er war verblüfft über die Ähnlichkeit der neuen Flagge mit derjenigen der Nation, von der die sezessionistischen Staaten abgefallen waren. Sogar jetzt, wo wir unsere Unabhängigkeit verkünden, sind wir nicht fähig, alle Bande durchzuschneiden, dachte er, als die neue Staatsflagge gehißt wurde, den ersten Windstoß einfing und sich gegen den Himmel ausbreitete.
70
In der Frühe des darauffolgenden Tages holperte eine Kutsche auf einer staubigen Straße durch Alabama in Richtung Montgomery. Das Kutschendach war mit gut einem Dutzend Koffer, und Reisetaschen beladen. Rex saß auf dem Bock und hielt die Zügel. In der Kutsche mühte sich Huntoon an einem lackierten Eichenklapptisch ab. Er hatte nun doch einen allerdings nicht sonderlich wichtigen Posten in der Regierung erhalten. Im Augenblick war er damit zufrieden, hatte er doch wesentlich mehr Glück gehabt als viele der führenden Sezessionisten von South Carolina. Bob Rhett zum Beispiel war als Präsidentschaftskandidat der Konföderation abgelehnt worden, weil man ihn als zu extrem befunden hatte.
Huntoon war bereit, gewisse Risiken auf sich zu nehmen, um sich eine Position zu schaffen. Während der ganzen mühseligen letzten Etappe ihrer Reise von Columbus, Georgia, bis nach Montgomery hatte er sich mit der Abfassung einer Denkschrift für den Kongreß der Konföderation beschäftigt. Sie bestand zur Hauptsache aus einem Angriff auf den konservativen Charakter der neuen provisorischen Verfassung des Südens, die sich seiner Meinung nach sprachlich und inhaltlich zu stark an die alte Verfassung anlehnte, außer daß sie die Sklaverei ausdrücklich befürwortete. Bemerkenswerterweise wurde der Sklavenhandel mit Afrika von der neuen Verfassung verboten. Diese Bestimmung mußte abgeändert werden.
Huntoon forderte in seiner Denkschrift die neue Konföderation auf, sich ›Vereinigte Staaten von Amerika‹ zu nennen, um der Welt zu zeigen, daß sie die einzig wahre, verfassungsmäßige Regierung auf dem ganzen Kontinent repräsentierte. Aus seiner Sicht waren es die Yankees gewesen, die die Grundsätze der Gründerväter pervertiert hatten.
Allerdings war er bei der Conclusio steckengeblieben. Er hatte geschrieben: »Wir müssen den Beweis erbringen, daß die Aristokratie besser regieren kann als der Pöbel«, und nun kam er nicht mehr weiter. Vielleicht war es der Anblick seiner Frau, der ihn ablenkte und seine Gedankengänge blockierte.