Brown gab es nicht mehr; sein Traum einer glorreichen Revolution war mit ihm am Galgen gestorben. Auch Grady gab es nicht mehr. Doch mit ihrem Blut hatten sie ein wertvolles Geschenk erworben: den Krieg. Es wurde zwar noch nicht gekämpft, aber sie war davon überzeugt, daß es nicht mehr lange dauern würde. Sie ergötzte sich an diesem Gedanken, während sie ihre Schenkel und Brüste gegen den Grabhügel drückte, als ob es Gradys Körper wäre.
Sie stellte sich Reihen um Reihen von Leichen vor, Südstaatler, ohne Köpfe, mit Armstümpfen, aus denen Blut hervorquoll, und Löchern, wo einmal Genitalien gewesen waren. Sie stöhnte und zitterte beim Gedanken an die bevorstehende triumphale Geburt ihrer Revolution. Es würde Arbeit für sie geben, blutige Arbeit, vor der andere entsetzt zurückscheuen würden.
Aber sie würde diese Arbeit auf sich nehmen. Sie würde dem Ruf ihres eigenen Hasses auf diejenigen folgen, die andere zu Sklaven machten, die wunderschöne schwarze Männer zu Sklaven machten. Sie hatte ihre Familie verlassen, diese unerträglichen, selbstgefälligen Moralapostel – für immer. Sie hatte sich von der Menschheit losgesagt und lebte jetzt einzig und allein für ihre Erinnerungen und für einen Gefährten: Der Tod, der ihr Freund und das gerechte Werkzeug Gottes war.
In Mont Royal schienen die Schatten länger und die Frühlingsnächte finsterer als je zuvor. Orry war weder am Anbau und an der Ernte von Reis interessiert, noch hatte er das geringste Vertrauen in den von Jeff Davis angekündigten Plan, wonach die Anerkennung der Konföderation seitens Europas durch die Handelswaffe Baumwolle erreicht werden sollte. Davis war seiner Meinung nach ein verdammter Idiot. Der europäische Markt war mit Baumwolle gesättigt, und wen würde es scheren, wenn der Süden seine Ernte zurückbehielt?
In Orrys Innerem drängte in letzter Zeit alles auf eine Veränderung. Ruhelos irrte er in den ihm vertrauten Räumen – in den gewohnten Geleisen – umher. Nur die Anwesenheit von Madeline und ihre einfache Art, sich in sein Leben einzufügen, machten ihm die Existenz noch erträglich.
Verwirrung und Zweifel schienen sein Schicksal zu sein. Während einer seiner schlaflosen Nächte begab er sich in die Bibliothek und fing an, dort herumzustöbern. Er nahm ein Buch in die Hand, das er seit Jahren nicht mehr angeschaut hatte. Notes on the State of Virginia, das einzige je von Thomas Jefferson geschriebene Buch.
Er zog das Nachthemd etwas hoch und setzte sich hin, um eine Weile in dem Buch zu lesen. Ein Satz, der unterstrichen worden war, stach ihm ins Auge. Am Rand waren drei Worte mit Tinte niedergeschrieben worden: Amen und amen. Die Zeile lautete wie folgt:
»Ja, ich zittere wirklich um mein Land, wenn ich bedenke, daß Gott gerecht ist, und daß seine Gerechtigkeit nicht auf ewig schlafen kann.«
Jefferson, ein Südstaatler und Sklavenbesitzer, hatte über die Sklaverei geschrieben. Was Orry bestürzte, war der Vermerk am Rand. Er hatte genügend alte Akten der Plantage durchgesehen, um die Handschrift seines Vaters erkennen zu können.
Den drei Worten nach zu schließen, mußte Tillet, der die Sklaverei nach außen zwar heftig verfochten hatte, doch Zweifel am System gehegt haben, Zweifel, die er sein ganzes Leben lang geheimgehalten hatte. Der alte Sünder, dachte Orry in einem Anflug von Zuneigung. Nun, gab es einen vernünftigen Mann auf der Welt, der keine Zweifel hegte, besonders jetzt, da die Folgen so grausam offensichtlich geworden waren?
Tillets Zweifel vergrößerten seine eigenen, die bereits stark waren. Sie bezogen sich auf die ganze Entwicklungsgeschichte der Mains und auf jeden Mann, der das System unterstützte und folglich davon lebte. Später bedauerte es Orry immer wieder, damals diesem merkwürdigen Impuls nachgegeben und gerade jenes Buch vom Bücherregal genommen zu haben.
An einem nebligen Morgen, wenige Minuten nach Sonnenaufgang, ritten Orry und Charles auf der Plantage herum. Blasse Dunstwolken umhüllten sie, als sie wie Phantomgestalten auf Phantompferden durch eine Landschaft von Grau mit rauchigem Orange galoppierten. Die bewässerten Felder schimmerten unter den Nebelwolken wie blankes Metall.
Zu ihrer Rechten trottete eine Reihe von Sklaven über das Feld. Der Mann an der Spitze wandte sich kurz um, um dem Herrn der Plantage einen lakonischen Gruß zu entbieten. Sogar aus der Distanz konnte Orry eine gewisse Ironie in der Haltung des Schwarzen, einen gewissen Groll auf seinem Gesicht erkennen.
Die gespensterhafte Kolonne der Männer tauchte bald darauf wieder in einem Nebelwirbel unter, doch es befanden sich noch weitere Gruppen von Arbeitern an jenem Morgen auf den Feldern, und Orry mußte feststellen, daß er mitten durch sie hindurch geritten war, ohne daß er sie bemerkt hatte. Sie gehörten irgendwie zum Ganzen, wie die Schleusen auf den Feldern oder das Küchengebäude. Sie gehörten zum Besitz.
Wiederum dachte er an das Buch von Jefferson. Besitzgegenstände. Das war es doch, nicht wahr? Das war doch der Grund, weshalb der Norden, weshalb die Welt, ja vielleicht sogar Gott selbst den Süden zur Rechenschaft zog.
»Wade Hampton ist dabei, eine berittene Legion zusammenzustellen«, sagte Charles plötzlich. »Ich werde mich in zwei Wochen zum Dienst melden.«
»Das wußte ich nicht.«
»Ich habe erst gestern Bericht erhalten. Ich habe die Warterei satt; ich möchte das tun, wozu ich ausgebildet worden bin.« Er sprang mit seinem Pferd über einen Graben. Sein viel zu langes Haar tanzte lustig in seinem Nacken auf und nieder. »Es wird einen glorreichen Kampf geben.«
Diese Bemerkung machte Orry deutlich, wie groß der Graben war, der sie voneinander trennte. Es war nicht bloß der Altersunterschied, der schuld daran war. Sogar nachdem Charles in Texas dem Tod ins Auge gesehen hatte, war seine Kampflust nicht kleiner geworden.
Orry wollte nicht, daß Charles sein Schweigen als Zustimmung auffassen könnte. »Glorreich?« rief er. »Ich glaube nicht. Diesmal sicher nicht.«
Doch Charles hatte bereits seinem Pferd die Zügel gegeben und lachte so laut, daß er die ernste Stimme hinter ihm nicht mehr hörte.
Mit wehendem Haar galoppierte er in den dunstigen Sonnenaufgang hinein – ein vollendeter Reiter.
Am nächsten Tag erhielt Orry einen Brief von der Regierung. Er versteckte ihn bis zum Abend und besprach ihn dann mit Madeline in ihrem gemeinsamen warmen Bett.
»Sie haben mich gebeten, das Kommando einer Brigade zu übernehmen. Offensichtlich macht es bei dem Dienstgrad nichts aus, wenn man nur noch einen Arm hat! Sie schreiben, meine Erfahrungen seien von unschätzbarem Wert. Unschätzbar – man stelle sich so was vor!«
Er lachte, doch der Humor kam nicht von Herzen. »Madeline, weißt du, daß Calhoun vor Jahren gesagt hat, West-Point-Männer würden große Armeen anführen? Er wird sich aber dabei kaum gedacht haben, daß sie diese Armeen aufeinanderhetzen würden.«
Nach einer Weile sagte sie: »Was hältst du von dem Vorschlag?«
Er legte sich hin und streichelte ihr Haar. »Er ist verführerisch, aber ich würde dich nicht allein hier zurücklassen wollen.«
»Ich habe keine Angst vor Justin.«
»Es geht mir nicht um Justin. Ist dir aufgefallen, wie sich viele Leute auf der Plantage benehmen? Sie sind faul geworden, und einige haben in letzter Zeit ein arrogantes Glimmen in den Augen. Noch heute Nachmittag habe ich Cuffey dabei erwischt, wie er mit einem andern Haussklaven flüsterte. Ich habe den Namen ›Linkum‹ gehört.«
Madeline versicherte ihm, daß er sich keine Sorgen um sie zu machen brauche, sollte er sich dafür entscheiden, den Vorschlag anzunehmen. Er dankte ihr, wußte jedoch, daß seine Entscheidung viel elementarere Gründe haben würde. Sein Land, das Land der Mains, war jetzt bedroht. Wollte er es verteidigen oder nicht?