Schreiber: Amn-Gelehrte, die die geschriebene Sprache der Götter studierten. Dieser Schreiber sah nicht wie die Asketen mit kalten Augen aus, die ich mir vorgestellt hatte. Zum einen war er jünger — vielleicht ein paar Jahre jünger, als meine Mutter gewesen war. Gewiss nicht alt genug für so weiße Haare. Vielleicht war er wie T’vril und ich — ein Amn-Mischling der etwas anderen Art.
»Ist mir ein Vergnügen«, sagte ich. »Obwohl ich mich doch frage, warum der Palast einen Schreiber benötigt. Warum studiert Ihr die Macht der Götter, wenn es hier doch echte Götter gibt?«
Er schien über meine Frage erfreut zu sein — vielleicht fragte man ihn nicht oft nach seiner Arbeit. »Nun, zum einen können sie nicht alles, und sie können auch nicht überall gleichzeitig sein. Es gibt Hunderte Menschen in diesem Palast, die täglich kleine Zaubereien ausführen. Wenn wir nun jedes Mal, sobald wir etwas brauchen, innehalten müssten, um einen Enefadeh zu rufen, würden wir hier kaum noch etwas geschafft bekommen. Der Aufzug zum Beispiel, der Euch zu dieser Etage des Palastes gebracht hat. Die Luft — so weit über dem Boden wäre sie normalerweise sehr dünn und kalt und somit schwer zu atmen. Magie sorgt dafür, dass es im Palast behaglich ist.«
Ich setzte mich vorsichtig auf einen der Hocker und beäugte den Arbeitstisch neben mir. Die Gegenstände darauf waren ordentlich hingelegt worden: diverse feine Pinsel, eine Tintenschale, ein kleiner, polierter Steinblock, auf dessen Oberseite ein seltsames, kompliziertes Zeichen aus Spitzen und Schnörkeln eingeritzt war. Das Zeichen war so völlig fremdartig und für das Auge irritierend, dass ich nicht lange hinschauen konnte. Der Drang, fortzuschauen, war ein Teil von ihm, da es sich um die Sprache der Götter handelte — ein Siegel.
Viraine nahm mir gegenüber Platz, während Si’eh sich unaufgefordert mir gegenüber an den Tisch setzte und sein Kinn auf die verschränkten Arme stützte.
»Zum anderen«, fuhr Viraine fort, »gibt es bestimmte Magien, die selbst die Enefadeh nicht benutzen können. Götter sind seltsame Geschöpfe, innerhalb ihres ›Einflussbereichs‹, um es einmal so zu nennen, sind sie ungeheuer mächtig, aber außerhalb sind sie eingeschränkt. Nahadoth ist bei Tag machtlos. Si’eh kann nicht still sein und sich anständig benehmen, es sei denn, er führt etwas im Schilde.« Er sah Si’eh an, der uns unschuldig anlächelte. »Auf viele Weisen sind wir Sterblichen ... wandlungsfähiger, ein anderer Ausdruck fällt mir dafür nicht ein. Wir sind vollständiger. Zum Beispiel — keiner von ihnen kann Leben erschaffen oder verlängern. Der einfache Akt, Kinder zu bekommen — etwas, das sogar eine glücklose Schankmaid oder ein nachlässiger Soldat tun kann —, ist eine Macht, die den Göttern seit Jahrtausenden abhandengekommen ist.«
Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Si’ehs Lächeln verschwand.
»Leben verlängern?« Ich hatte Gerüchte darüber gehört, was manche der Schreiber mit ihrer Macht anstellten — schreckliche, ekelhafte Gerüchte. Plötzlich fiel mir ein, dass mein Großvater sehr, sehr alt war.
Viraine nickte, und seine Augen funkelten wegen der Missbilligung, die mein Tonfall zum Ausdruck brachte. »Das ist das größte Streben meiner Zunft. Vielleicht erreichen wir eines Tages sogar die Unsterblichkeit ...« Er sah das Entsetzen auf meinem Gesicht und lächelte. »Obwohl dieses Ziel nicht unumstritten ist.«
Meine Großmutter hatte immer gesagt, dass die Amn unnatürliche Menschen seien. Ich schaute weg. »T’vril sagte, dass Ihr mir das Siegel geben werdet.«
Er grinste und gab sich keine Mühe, seine Belustigung zu verbergen. Er lachte die primitive Barbarin aus. »Mmm-hmm.«
»Was bewirkt dieses Mal?«
»Unter anderem hält es die Enefadeh davon ab, Euch zu töten. Ihr habt ja gesehen, wie sie sein können.«
Ich leckte mir über die Lippen. »Ah. Ja. Ich ... wusste nicht, dass sie ...« Ich gestikulierte vage und wusste nicht, wie ich mich ausdrücken sollte, um Si’eh nicht zu beleidigen.
»Frei herumlaufen?«, fragte Si’eh vergnügt. In seinen Augen war eine gewisse Boshaftigkeit zu erkennen, er erfreute sich an meinem Unbehagen.
Ich zuckte zusammen. »Ja.«
»Die sterbliche Form ist ihr Gefängnis«, sagte Viraine und beachtete Si’eh gar nicht. »Und jede Seele in Elysium ist ihr Kerkermeister. Sie wurden von Bright Itempas dazu verpflichtet, den Nachkommen von Shahar Arameri, seiner besten Priesterin, zu dienen. Aber da es inzwischen Tausende von Shahars Abkömmlingen gibt ...« Er zeigte auf die Fenster, als ob die ganze Welt nur aus einer Sippe bestünde. Vielleicht meinte er auch einfach nur Elysium, die einzige Welt, die ihm wichtig war. »Unsere Ahnen beschlossen, der Situation mit einer geordneten Struktur zu begegnen. Das Siegel bestätigt den Enefadeh, dass Ihr Arameri seid; ohne dieses Siegel werden sie Euch nicht gehorchen. Außerdem verdeutlicht es Euren Rang innerhalb der Familie. Um genau zu sein: Es gibt an, wie nah Ihr der Hauptlinie der Nachfahren kommt, was wiederum festlegt, wie viel Befehlsmacht Ihr über sie habt.«
Er nahm einen Pinsel auf, tauchte ihn aber noch nicht in die Tinte. Stattdessen bewegte er seine Hand in Richtung meines Gesichtes und strich mir das Haar aus der Stirn. Mein Herz krampfte sich zusammen, während er mich prüfend betrachtete. Viraine war offensichtlich ein Experte — und er konnte Zhakkas
Siegel wirklich nicht sehen? Einen Moment lang dachte ich, das wäre doch der Fall, weil sein Blick für den Bruchteil einer Sekunde meinen fixierte. Aber scheinbar hatten die Götter ihre Arbeit gut gemacht, denn kurz darauf ließ Viraine mein Haar los und fing an, in der Tinte zu rühren.
»T’vril sagte, dass das Siegel dauerhaft ist«, sagte ich, hauptsächlich, um meine aufsteigende Nervosität zu bekämpfen. Die schwarze Flüssigkeit sah wie normale Schreibtinte aus, obwohl der Block mit dem Siegel offensichtlich kein normaler Tintenstempel war.
»Das stimmt, es sei denn, Dekarta befiehlt, dass es entfernt wird. Es ist wie eine Tätowierung, nur schmerzlos. Ihr werdet Euch daran gewöhnen.«
Ich war von einem dauerhaften Mal wenig begeistert, aber ich hütete mich, zu protestieren. Um mich abzulenken, fragte ich: »Warum nennt Ihr sie ›Enefadeh‹?«
Den Ausdruck, der flüchtig über Viraines Gesicht huschte, erkannte ich instinktiv: Berechnung. Ich hatte ihm gegenüber gerade eine erstaunliche Ignoranz an den Tag gelegt, und er gedachte, daraus einen Vorteil zu ziehen.
Beiläufig pikste er Si’eh, der die Gegentstände auf Viraines Arbeitstisch verstohlen musterte, mit dem Daumen. »So nennen sie sich selbst. Wir finden die Bezeichnung lediglich brauchbar.«
»Warum nennt man sie nicht ...«
»Wir nennen sie nicht Götter.« Viraine lächelte andeutungsweise. »Das wäre eine Beleidigung gegenüber dem Elysiumvater, unserem einzig wahren Gott, und den Kindern des Elysiumva- ters, die Ihm treu ergeben sind. Aber wir können sie auch nicht Sklaven nennen. Schließlich haben wir die Sklaverei vor Jahrhunderten abgeschafft.«
Das war es, warum man die Arameri hasste — wirklich hasste und ihnen nicht nur ihre Macht verübelte oder ihre Bereitschaft, diese zu nutzen. Sie fanden immer wieder neue Lügen für das, was sie taten. Es verhöhnte das Leiden ihrer Opfer.
»Warum bezeichnet man sie nicht als das, was sie sind?«, fragte ich.
»Waffen.«
Si’eh warf mir einen Blick zu, der in dem Moment sogar für den eines Kindes zu unbedarft war.
Viraine zuckte wie unter Schmerzen zusammen. »Gesprochen wie eine wahre Barbarin«, sagte er, und sein Lächeln half nicht, die Beleidigung abzuschwächen. »Ihr müsst verstehen, Lady Yei- ne, dass wir Arameri — wie unsere Vorfahrin Shahar — in erster Linie Diener des Elysi um vaters Itempas sind. In Seinem Namen haben wir das Zeitalter der Helligkeit in der Welt eingeläutet. Frieden, Ordnung, Erleuchtung.« Er spreizte seine Hände. »Die Diener von Itempas benutzen keine Waffen und brauchen sie auch nicht. Werkzeuge hingegen ...«