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Ich hatte genug gehört. Ich kannte seinen Rang im Vergleich zu meinem nicht, aber ich war müde, verwirrt und fern der Heimat, und wenn barbarische Manieren mir besser dabei helfen würden, diesen ersten Tag zu überstehen, dann bitte.

»Bedeutet Enefadeh also Werkzeug‹?«, verlangte ich zu wissen. »Oder heißt es nur ›Sklave‹ in einer anderen Sprache?«

»Es bedeutet ›die, die sich an Enefa erinnern‹«, sagte Si’eh. Er stützte das Kinn auf seine Faust. Die Gegenstände auf Viraines Arbeitstisch sahen zwar immer noch genauso aus wie vorher, aber ich war sicher, dass er etwas mit ihnen angestellt hatte. »Sie war es, die von Itempas vor langer Zeit ermordet wurde. Wir haben Krieg gegen ihn geführt, um sie zu rächen.«

Enefa. Die Priester hatten ihren Namen nie erwähnt. »Die Verräterin«, murmelte ich, ohne darüber nachzudenken.

»Sie hat niemanden verraten«, versetzte Si’eh.

Viraine warf Si’eh einen Blick zu, der nicht zu deuten war.

»Stimmt. Die Machenschaften einer Hure kann man wohl kaum als Verrat bezeichnen, nicht wahr?«

Si’eh zischte. Sein Gesicht zeigte einen Lidschlag lang etwas Unmenschliches — etwas Durchtriebenes, Ungezähmtes —, dann war er wieder ganz Junge, rutschte von dem Hocker und zitterte vor Wut. Einen kurzen Moment lang glaubte ich, er würde seine Zunge herausstrecken, aber der Hass in seinen Augen war dafür zu alt.

»Ich werde darüber lachen, wenn du tot bist«, sagte er sanft. Die kleinen Härchen auf meiner Haut stellten sich auf, da seine Stimme jetzt die eines erwachsenen Mannes war, volltönende Böswilligkeit. »Ich werde dein Herz als mein Spielzeug benutzen und es für hundert Jahre herumtreten. Und wenn ich dann endlich frei bin, werde ich all deine Nachfahren aufspüren und dafür sorgen, dass ihre Kinder so werden wie ich.«

Damit verschwand er. Ich blinzelte. Viraine seufzte.

»Und das, Lady Yeine, ist der Grund, warum wir die Blutsiegel benutzen«, sagte er. »Auch wenn diese Drohung lächerlich war, er meinte jedes Wort ernst. Das Siegel verhindert, dass er sein Vorhaben ausführte, obwohl auch dieser Schutz seine Grenzen hat. Der Befehl eines höherrangigen Arameri oder Dummheit Eurerseits könnten Euch angreifbar machen.«

Ich runzelte die Stirn und erinnerte mich an den Moment, in dem T’vril mich gedrängt hatte, Viraine zu erreichen. Nur ein Vollblut kann ihn jetzt zurückrufen. Und T’vril war ein — wie nannte er es noch? — ein Halbblut.

»Dummheit meinerseits?«, fragte ich.

Viraine sah mich durchdringend an. »Sie müssen sich jeder unbedingten Anweisung von Euch fügen, Lady. Denkt einmal darüber nach, wie viele solcher Äußerungen wir unbedacht machen oder im übertragenen Sinne, ohne dass wir uns über andere Bedeutungen Gedanken machen.« Als ich anfing, darüber nachzugrübeln, rollte er mit den Augen. »Das gemeine Volk sagt gerne ›Zum Teufel mit dir!‹ Habt Ihr das auch schon einmal gesagt, im ersten Zorn?« Als ich langsam nickte, beugte er sich zu mir herüber. »Der Sinn des Satzes ist natürlich stillschweigend angedeutet; eigentlich meinen wir Du sollst dahingehen. Aber man könnte den Satz auch so verstehen: Ich will dahin gehen und du wirst mich dahin bringen.«

Er machte eine Pause, um zu sehen, ob ich verstanden hatte. Ich hatte verstanden. Als ich erschauerte, nickte er und lehnte sich zurück.

»Redet einfach nicht mit ihnen, wenn Ihr nicht unbedingt müsst«, sagte er.

»So. Sollen wir ...« Er griff nach der Tintenschale und fluchte, als sie umkippte, sobald seine Finger sie berührten. Irgendwie hatte Si’eh einen Pinsel daruntergeklemmt. Die Tinte ergoss sich über den Tisch wie

wie — und dann berührte Viraine meine Hand. »Lady Yeine? Geht es Euch gut?«

So war es passiert — ja. Beim ersten Mal.

Ich blinzelte. »Was?«

Er lächelte und war wieder ganz herablassende Freundlichkeit. »Es war ein harter Tag, nicht wahr? Nun, das hier wird nicht lange dauern.« Er säuberte alles von der vergossenen Tinte. Scheinbar war in der Schale genug übrig, dass wir weitermachen konnten. »Wenn Ihr Euer Haar für mich zurückstreichen würdet ...«

Ich bewegte mich nicht. »Warum hat Großvater Dekarta das getan, Schreiber Viraine? Warum hat er mich herkommen lassen?«

Er zog seine Augenbrauen hoch, als ob er überrascht wäre, dass ich so etwas fragte. »Ich bin nicht in seine Gedanken eingeweiht. Ich weiß es nicht.«

»Ist er senil?«

Er stöhnte. »Ihr seid wirklich eine Wilde. Nein, er ist nicht senil.«

»Warum dann?«

»Ich habe Euch gerade gesagt ...«

»Wenn er mich umbringen wollte, hätte er mich einfach hinrichten lassen können. Unter irgendeinem Vorwand, wenn er einen solchen überhaupt für nötig gehalten hätte. Oder er hätte mit mir dasselbe tun können wie mit meiner Mutter. Ein Meuchelmörder in der Nacht, Gift in meinem Schlaf.«

Endlich hatte ich es geschafft, ihn zu überraschen. Er wurde sehr still, sein Blick traf meinen, und dann schaute er fort. »Ich würde Dekarta an Eurer Stelle nicht mit diesen Beweisen konfrontieren.«

Wenigstens versuchte er nicht, es zu leugnen.

»Ich brauchte keine Beweise. Eine gesunde Frau um die vierzig stirbt nicht so einfach im Schlaf. Aber ich sorgte dafür, dass der Arzt ihre Leiche gründlich untersuchte. Es gab ein Mal, einen kleinen Einstich, an ihrer Stirn. Auf der ...« Ich brach kurz ab. Plötzlich wurde mir etwas klar, das ich nie in meinem Leben in Frage gestellt hatte. »Auf der Narbe, die sie hatte, genau hier.« Ich berührte meine eigene Stirn, wo das Arameri-Siegel seinen Platz finden würde.

Viraine sah mir nun geradewegs in die Augen, ernst und schweigend. »Wenn ein Arameri-Assassine eine Spur hinterlassen hat, die man sehen konnte — und wenn Ihr erwartet habt, sie zu sehen — dann, Lady Yeine, versteht Ihr weit mehr von Dekartas Absichten als jeder andere von uns. Warum, glaubt Ihr; hat er Euch herbringen lassen?«

Ich schüttelte langsam den Kopf. Ich hatte es während der ganzen Reise nach Elysium geahnt. Dekarta war wütend auf meine Mutter, hasste meinen Vater. Es konnte keinen erfreulichen

Grund für seine Einladung geben. Irgendwo im Hinterkopf hatte ich erwartet, bestenfalls hingerichtet zu werden — vielleicht, nachdem man mich auf den Stufen zum Salon gefoltert hatte. Meine Großmutter hatte Angst um mich gehabt. Wenn es auch nur eine entfernte Hoffnung gegeben hätte, wegzulaufen, hätte sie mich wohl dazu gedrängt. Aber man rennt vor den Arameri nicht davon.

Und eine Darre-Frau rennt nicht vor Rache davon.

»Dieses Zeichen«, sagte ich endlich. »Wird es mir helfen, hier zu überleben?«

»Ja. Die Enefadeh werden Euch nichts tun können, es sei denn, Ihr tut etwas Dummes. Was Scimina, Relad und andere Gefahren angeht ...«

Er zuckte mit den Schultern. »Nun ja. Magie kann auch nicht alles.«

Ich schloss meine Augen und ließ das Bild des Gesichts meiner Mutter zum zigtausendsten Mal vor meinem inneren Auge aufsteigen. Sie war mit Tränen auf den Wangen gestorben, vielleicht wusste sie, was mich erwartete.

»Dann lasst uns anfangen«, sagte ich.

Chaos

Während ich in dieser Nacht schlief, träumte ich von ihm.

Es ist eine bedrohliche Nacht voller Sturmwolken.

Uber den Wolken deutet sich am Himmel der bevorstehende Sonnenaufgang an, unterhalb der Wolken ändert sich die Beleuchtung des Schiachfeldes dadurch aber nicht. Für hunderttausend Soldaten ist das Licht von tausend brennenden Fackeln mehr als ausreichend. Die Hauptstadt, die in der Nähe liegt, verbreitet ebenfalls ein sanftes Licht.