Dies ist nicht das Elysium, das ich kenne. Diese Stadt breitet sich auf einer Talaue aus, nicht auf einem Hügel; der Palast steht in ihrer Mitte und schwebt nicht darüber. Ich bin nicht ich.
»Eine ansehnliche Streitmacht«, sagt Zhakka neben mir. Zhakkarn, wie ich jetzt weiß, die Göttin des Kampfes und des Blutvergießens. An der Stelle ihres üblichen Kopftuches befindet sich ein Helm, der ihren Kopf fast genauso eng umschließt. Sie trägt eine glänzende Silberrüstung, deren Oberfläche prachtvoll mit eingravierten Siegeln und unergründlichen Mustern überzogen ist, die rot glühen, als ob sie heiß wären. Dort steht eine Botschaft in den Worten der Götter. Erinnerungen, die ich nicht besitzen sollte, wollen mich mit ihrer Bedeutung provozieren, aber am Ende gelingt es ihnen nicht.
»Ja«, sage ich, und meine Stimme ist männlich, obwohl sie hoch und näselnd klingt. Ich weiß dass ich ein Arameri bin. Ich fühle, dass ich mächtig bin. Ich bin der Kopf der Familie. »Ich wäre auch beleidigt gewesen, wenn sie mit nur einem Soldaten weniger angerückt wären.«
»Nun, da du jetzt nicht beleidigt bist, vielleicht könntest du dann mit ihnen verhandeln«, sagt eine Frau neben mir. Sie ist von strenger Schönheit, ihre Haare sind bronzefarben, und ein Paar riesiger Schwingen mit Federn aus Gold, Silber und Platin ist hinter ihrem Rücken gefaltet. Kurue, genannt die Weise.
Ich spüre Arroganz. »Verhandeln? Ich verschwende mit denen doch nur meine Zeit.«
Ich glaube nicht, dass ich mein anderes Ich mag.
»Was denn dann?«
Ich drehe mich um, um diejenigen hinter mir anzusehen. Si’eh sitzt im Schneidersitz auf seinem schwebenden gelben Ball. Er hat sein Kinn auf einer Faust aufgestützt; ihm ist langweilig. Hinter Si’eh lauert eine angespannte Erscheinung, von der Rauch aufsteigt. Bisher hatte ich von ihr noch keine Bewegung hinter mir bemerkt. Sie beobachtet mich, als ob sie sich meinen Tod vorgestellt hätte.
Ich zwinge mich zu einem Lächeln, um zu verschleiern, wie sehr er mich verunsichert. »Nun, Nahadoth. Wie lange ist es her, dass du so richtig Spaß hattest?«
Ich habe ihn überrascht. Es befriedigt mich, zu erkennen, dass ich dazu in der Lage bin. Eine Begierde überzieht sein Gesicht, die zu betrachten abschreckend ist, aber ich habe keinen Befehl gegeben, also wartet er ab.
Die anderen sind ebenfalls überrascht, wenn auch weniger erfreut. Si’eh richtet sich auf und starrt mich an. »Hast du den Verstand verloren?«
Kurue ist diplomatischer. »Das war unnötig, Lord Haker. Zhakkarn oder auch ich selbst werden mit dieser Armee fertig.«
»Oder ich«, sagt Si’eh verärgert.
Ich schaue Nahadoth an und überlege mir, wie die Geschichten wohl erzählt werden, wenn sich herumspricht, dass ich den Lord der Finsternis auf diejenigen losgelassen habe, die es gewagt haben, mich herauszufordern. Er ist meine mächtigste Waffe, aber bisher habe ich seine Fähigkeiten noch nie zu Gesicht bekommen. Ich bin neugierig.
»Nahadoth«, sage ich. Sein Schweigen, die Macht, die ich über ihn habe, ist aufregend, aber ich weiß, dass ich einen klaren Kopf behalten muss. Es ist wichtig, die richtigen Anweisungen zugeben. Sein Denken findet jedes Schlupfloch.
»Geh auf das Schlachtfeld und beseitige diese Armee. Erlaube ihnen nicht, bis hierhin oder nach Elysium vorzurücken. Lass keine Uberlebenden entkommen.« Beinahe hätte ich es vergessen und fügte schnell hinzu: »Und töte mich nicht dabei.«
»Ist das alles?«, fragt er.
»Ja.«
Er lächelt. »Wie du wünschst.«
»Du bist ein Narr«, sagt Kurue und wirft jegliche Höflichkeit über Bord. Mein anderes Ich beachtet sie nicht.
»Achtet auf seine Sicherheit«, sagt Nahadoth zu seinen Kindern. Er lächelt immer noch, ab er auf das Schlachtfeld schreitet.
Es sind so viele Feinde, dass ich nicht einmal alle sehen kann. Nahadoth geht auf ihre vorderste Linie zu und wirkt dabei winzig. Hilflos. Menschlich. Ich kann über die weite Fläche der Ebene hinweg einige ihrer Soldaten lachen hören. Die Kommandanten in der Mitte der Linie schweigen. Sie wissen, was er ist.
Nahadoth hält seine Hände seitlich hoch, und in beiden erscheint jeweils ein gekrümmtes Schwert. Er rennt gegen die Linie an wie ein schwarzer Blitz und durchbohrt sie wie ein Pfeil. Schilde splittern, Rüstungen und Schwerter zerbersten, Körperteile wirbeln durch die Luft. Die Feinde sterben zu Dutzenden. Ich klatsche und lache. »Welch eine wunderbare Darbietung!«
Die anderen Enefadeh um mich herum sind angespannt und haben Angst.
Nahadoth schlägt eine Schneise durch die Armee, bis er ihre Mitte erreicht. Niemand kann sich ihm entgegenstellen. Als er endlich anhält, hat er einen Kreis des Todes um sich gezogen, und die feindlichen Soldaten stolpern bei dem Versuch, ihm zu entkommen, über ihre eigenen Füße. Von hier aus kann ich ihn nicht gut sehen, obwohl der schwarze Rauch seiner Aura in den vergangenen Minuten noch höher zu steigen schien.
»Die Sonne kommt«, sagt Zhakkarn.
»Nicht schnell genug«, sagt Kurue.
In der Mitte der Armee erklingt ein Geräusch. Nein, kein Geräusch, eine Schwingung. Wie ein Pulsschlag, der die ganze Erde erschüttert.
Dann erwacht ein schwarzer Stern im Herzen der Armee zum Lehen. Ich wüsste nicht, wie ich es sonst beschreiben sollte. Er ist eine Sphäre der Finsternis, die so konzentriert ist, dass sie glüht; so voller Macht, dass die Erde unter ihr stöhnt und nachgibt. Eine Grube formiert sich, von der tiefe Spalten ausgehen. Der Feind fällt hinein. Ich kann die Schreie nicht hören, weil der schwarze Stern den Schall aufsaugt. Er saugt die Körper auf. Er saugt einfach alles auf.
Die Erde bebt so heftig, dass ich auf alle viere falle. Ich bin umgeben von einem dumpfen, brausenden Getöse. Ich schaue hoch und sehe, dass sogar die Luft sichtbar ist, während sie vorbeirauscht und in diese Grube gesogen wird, in dieses alles verschlingende Grauen, zu dem Nahadoth geworden ist. Kurue und die anderen um mich herum murmeln in ihren Sprachen, um die Winde und die anderen furchtbaren Mächte, die ihr Vater entfesselt hat, unter Kontrolle zu bringen. Außer uns, die wir von einer Blase der Ruhe umgeben sind, ist nichts sicher. Über uns haben sich sogar die Wolken gebogen und fahren trichterförmig herunter in den Stern. Die Armee des Feindes ist verschwunden. Alles, was übrig bleibt, ist der Boden, auf dem wir stehen, der Kontinent darum und der Planet darunter.
Endlich wird mir mein Fehler klar: Da seine Kinder mich beschützen, steht es Nahadoth frei, das alles zu verschlingen.
Ich muss all meine Willenskraft zusammennehmen, um die Angst, die mich zu ersticken droht, zu überwinden. »H—halt!«, schreie ich. »Nahadoth, hör auf!« Die Worte wirbeln mit dem heulenden Wind ungehört davon. Er ist durch eine Magie, die noch mächtiger ist als er selbst, dazu gezwungen, meinen Befehlen Folge zu leisten, aber nur, wenn er mich hören kann.
Vielleicht war es seine Absicht, mich zu übertönen — oder vielleicht geht er nur völlig auf in der Herrlichkeit seiner eigenen Macht und genießt das Chaos, das seiner Natur entspricht.
Die Grube unter ihm bricht aus, als er auf flüssiges Gestein stößt. Ein Tentakelfeuriger Ijtva schießt hoch und wirbelt in der Schwärze herum, bevor auch er verschlungen wird. Oben ein Tornado, unten ein Utlkan — und im Zentrum ist der schwarze Stern, der immer größer wird.
Auf eine furchtbare Art ist es das Schönste, was ich je erblickt habe.
Am Ende rettet uns der Elysiumvater. Die zerrissenen Wolken enthüllen einen von Lichtstrahlen überzogenen Himmel und in dem Moment, in dem die Steine unter meiner Hand erzittern, weil sie davonfliegen wollen, blinzelt die Sonne über den Horizont.
Der schwarze Stern verschwindet.
Etwas Verkohltes und Mitleiderregendes, das nicht menschlich genug aussieht, um es als Leichnam zu bezeichnen, schwebt einen Moment lang an der Stelle, wo vorher der Stern war, und fällt dann hinunter in die Lava. Si’eh flucht und flitzt auf seinem gelben Ball davon. Dabei zerplatzt die Blase, aber sie ist auch nicht länger vonnöten. Die Luft um mich herum ist heiß und dünn und deshalb schwer zu atmen. Ich kann sehen, wie sich in der Entfernung bereits ein Sturm zusammenbraut und in diese Richtung zieht, um die Leere zu füllen.