»Darum geht es nicht«, sagte ich. »Du bist immer noch ...« Ich rang nach Worten. Ein Mensch könnte als Beleidigung aufge- fasst werden.
Er schüttelte den Kopf. »Nur Enefas Tod schmerzt mich, und den hatte sie nicht einem Sterblichen zu verdanken.«
In dem Moment erschütterte ein bassartiges Dröhnen den ganzen Palast. Ich bekam Gänsehaut, im Badezimmer klapperte kurz etwas, dann war es still.
»Sonnenuntergang«, sagte Si’eh. Er klang erfreut, richtete sich auf und ging zu einem meiner Fenster. Der Himmel im Westen bestand aus buntschillernden Wolkenschichten. »Mein Vater kehrt zurück.«
Wo war er gewesen?, fragte ich mich, obwohl mich ein anderer Gedanke ablenkte. Das monströse Ungeheuer meiner Albträume, das Biest, das mich durch die Wände hindurch gejagt hatte, war Si’ehs Vater.
»Er hat gestern versucht, dich zu töten«, sagte ich.
Si’eh schüttelte ablehnend den Kopf und klatschte dann in die Hände, so dass ich erschreckt aufsprang. »En. Naiasouwamehikach.«
Das war Kauderwelsch, mit singendem Tonfall ausgesprochen. Noch während der Klang in der Luft hing, veränderte sich meine Wahrnehmung. Plötzlich wurde mir bewusst, dass jede Silbe als leises Echo von den Wänden des Zimmers widerhallte. Sie trafen sich und gingen ineinander über. Ich bemerkte, wie sich die Luft anfühlte, als die Geräusche hindurchwogten. Uber den Boden hinweg in die Wände. Durch die Wände zu der stützenden Säule, die Elysium trug. Hinunter durch die Säule in die Erde.
Und das Geräusch wurde weitergetragen, während die Erde sich wie ein verschlafenes Kind herumdrehte, wir im Jahreszeitenzyklus um die Sonne jagten, und die Sterne sich elegant um uns herumdrehten —
Ich blinzelte und war kurz überrascht, dass ich mich noch im Zimmer befand. Aber dann begriff ich. Die frühen Jahrzehnte in der Geschichte der Schreiber waren voller Todesfälle ihrer Begründer, bis man sich auf die geschriebene Form der Sprache beschränkte. Es erstaunte mich, dass sie es überhaupt versucht hatten. Eine Sprache, deren Bedeutung nicht nur auf Syntax, Aussprache und Klang beruhte, sondern auch auf der Position, die man in dem Moment im Universum einnahm — wie hatte man jemals darauf hoffen können, das zu meistern? Das konnte kein Sterblicher verstehen.
Si’ehs gelber Ball erschien aus dem Nichts und sprang in seine Hand. »Geh, schau und dann finde mich«, befahl er und warf den Ball fort. Dieser prallte gegen eine Wand und verschwand dann.
»Ich werde deine Nachricht an Kurue weiterleiten«, sagte er und ging auf die Wand neben meinem Bett zu. »Denk über unser Angebot nach, Yeine, aber tu es bald, ja? Für euresgleichen vergeht die Zeit so schnell. Dekarta wird, eh du dich versiehst, tot sein.«
Er sprach mit der Wand und sie öffnete sich vor ihm. Dahinter befand sich enger, ungenutzter Raum. Das Letzte, was ich sah, war sein Grinsen, als sie sich hinter ihm schloss.
Liebe
Wie seltsam. Mir ist gerade erst klar geworden, dass diese ganze Angelegenheit nicht mehr ist als zwei aufeinandertreffende Familienfehden.
Von meinem Fenster in Elysium aus erschien es mir, als ob ich das gesamte Königreich der Hunderttausend überblicken konnte. Ich wusste natürlich, dass dies ein Trugschluss war: Schreiber hatten bewiesen, dass die Welt rund ist. Trotzdem war es einfach, sich das vorzustellen. Es gab so viele blinkende Lichter, die wie Sterne auf dem Erdboden aussahen. Früher bestand mein Volk aus verwegenen Baumeistern. Wir schnitzten unsere Städte in die Berge, und unsere Tempel bildeten einen Sternenkalender — aber so etwas wie Elysium hätten selbst wir nicht errichten können. Natürlich waren auch die Amn nicht dazu in der Lage, jedenfalls nicht ohne die Hilfe der von ihnen gefangen gehaltenen Götter. Aber das ist nicht der Hauptgrund, warum Elysium vor den Augen der Darre niemals Gnade finden wird. Es ist Gotteslästerung, sich von der Erde zu lösen und dann wie ein Gott auf sie herabzuschauen. Es ist mehr als nur Gotteslästerung — es ist eine Abscheulichkeit. Schließlich können wir niemals Götter sein, aber wir können mit gefährlicher Leichtigkeit zu etwas verkommen, das nicht mehr menschlich ist.
Trotz allem konnte ich nicht anders, als den Anblick in vollen Zügen zu genießen. Es ist wichtig, dass man Schönheit zu schätzen weiß, auch wenn es eine teuflische Schönheit ist.
Ich war sehr müde. Jetzt war ich kaum mehr als einen Tag in Elysium und so viel hatte sich in meinem Leben verändert. In Darr war ich praktisch tot. Ich hatte keine Erben hinterlassen, und nun würde die Ratsversammlung eine andere junge Frau aus einer anderen Linie zur ennu ernennen. Meine Großmutter würde tief enttäuscht sein, obwohl sie seit langem befürchtet hatte, dass so etwas passieren würde. Ich war nicht tot, aber ich war eine Arameri geworden, und das war genauso schlimm.
Von mir als Arameri wurde erwartet, dass ich meine Heimat nicht bevorzugte und die Bedürfnisse aller Nationen gleichermaßen bedachte. Natürlich hatte ich nichts dergleichen getan. Sobald T’vril und Si’eh fort waren, war ich mit allen mir unterstellten Nationen in Kontakt getreten und hatte vorgeschlagen — obwohl ich wusste, dass ein Vorschlag von einem Arameri-Erben kein Vorschlag sein kann —, dass sie darüber nachdenken sollten, die Handelsbeziehungen mit Darr wieder aufzunehmen. Die mageren Jahre, die folgten, nachdem meine Mutter den Arameri den Rücken gekehrt hatte, waren nicht auf ein direktes Handelsembargo zurückzuführen. Wir hätten deswegen beim Konsortium protestieren können oder Mittel und Wege finden, um es zu umgehen. Denn jedes Land, das versuchte, sich bei unseren Regenten anzubiedern, hatte plötzlich einfach beschlossen, die Existenz Darrs zu ignorieren. Verträge wurden gebrochen, finanzielle Verpflichtungen ignoriert, Gerichtsverfahren abgewiesen — sogar Schmuggler machten einen Bogen um uns. Wir wurden zu Geächteten.
So konnte ich wenigstens mit meiner neu hinzugewonnenen, unerwünschten Arameri- Macht einen Teil der Absichten, die ich bei meiner Reise hierher verfolgt hatte, in die Tat umsetzen.
Was den Rest meiner Absichten anging ... nun. Elysiums Wände waren hohl, seine Flure ein Labyrinth. Dadurch gab es viele Stellen, an denen sich die Geheimnisse, die den Tod meiner Mutter begleiteten, verstecken konnten.
Doch ich würde sie finden, eins nach dem anderen.
Während meiner ersten Nacht in Elysium hatte ich gut geschlafen. Der Schock und die Flucht hatten mich so erschöpft, dass ich mich nicht einmal mehr daran erinnern konnte, mich hingelegt zu haben.
In der zweiten Nacht weigerte sich der Schlaf hartnäckig, zu mir zu kommen. Ich lag in dem zu großen, zu weichen Bett meines Quartiers und starrte Decke und Wände an, die mit ihrem Leuchten mein Zimmer taghell machten. Elysium verkörperte die Helligkeit, die Arameri erlaubten hier keine Finsternis. Aber wie konnten die anderen Mitglieder meiner erlauchten Familie nur schlafen?
Nachdem ich mich stundenlang herumgewälzt hatte, verfiel ich in eine Art Halbschlaf, aber mein Geist kam nicht zur Ruhe. In der Stille konnte ich über alles, was in den letzten Tagen geschehen war, nachdenken und mich fragen, wie es meiner Familie und meinen Freunden in Darr ging. Außerdem konnte ich mir Sorgen machen, ob ich auch nur den Hauch einer Chance hatte, diesen Ort zu überleben.
In diesem Moment allerdings beschlich mich das Gefühl, beobachtet zu werden.
Meine Großmutter hatte mich gut ausgebildet, deshalb war ich sofort hellwach.
Obwohl ich dem Drang widerstand, meine Augen zu öffnen oder eine andere Reaktion zu zeigen, sagte eine tiefe Stimme: »Du bist wach.«
Also öffnete ich meine Augen und setzte mich auf — und musste dann einem ganz anderen Drang widerstehen, als ich den Lord der Finsternis keine zehn Schritte entfernt stehen sah.