Wegrennen hatte keinen Zweck. Also sagte ich: »Guten Abend, Lord Nahadoth.« Ich war stolz, als meine Stimme nicht zitterte.
Er neigte seinen Kopf in meine Richtung, stand dann einfach schwelend am Fußende meines Bettes und ließ nichts Gutes erahnen. Als mir bewusst wurde, dass Götter mit ziemlicher Sicherheit einen anderen Zeitbegriff haben als Sterbliche, fragte ich ihn: »Womit habe ich die Ehre Eures Besuches verdient?«
»Ich wollte dich sehen«, sagte er.
»Warum?«
Darauf antwortete er nicht. Aber immerhin bewegte er sich. Er drehte sich um, so dass er mir den Rücken zukehrte, und ging zum Fenster. Dort war es schwieriger, ihn zu zu erkennen, weil der dunkle Nachthimmel im Hintergrund war. Sein Umhang — seine Haare? — also diese dunkle Korona, die ihn ständig umspielte, wurde eins mit dem schwarzen Sternenhimmel.
Dies war weder das gewalttätige Ungeheuer, das mich gejagt hatte, noch das kalte, überlegene Wesen, das kurz darauf gedroht hatte, mich zu töten. Ich konnte ihn nicht einschätzen, aber diesmal umgab ihn etwas Weiches, das ich bisher nur für einen kurzen Augenblick wahrgenommen hatte, als er meine Hand hielt, sein Blut auf mich tropfte und er mich mit einem Kuss ehrte.
Ich wollte ihn darauf ansprechen, aber es gab zu viel an dieser Erinnerung, das mich beunruhigte. Stattdessen fragte ich ihn: »Warum habt Ihr gestern versucht, mich zu töten?«
»Ich hätte dich nicht getötet. Scimina hat mir befohlen, dich am Leben zu lassen.«
Das beunruhigte mich noch mehr. »Warum?« »Ich nehme an, weil sie nicht wollte, dass du stirbst.«
Ich war gefährlich kurz davor, ärgerlich zu werden. »Was hättet Ihr mit mir gemacht, wenn Ihr mich nicht töten wolltet?«
»Dir wehgetan.«
Diesmal war ich froh, dass er so dunkel war.
Ich schluckte. »So, wie Ihr Si’eh wehgetan habt?«
Er hielt inne und drehte sich dann zu mir herum. Der Halbmond schien über ihm durch das Fenster. Sein Gesicht hatte denselben blassen Glanz. Er sagte nichts, aber plötzlich verstand ich: Er erinnerte sich nicht mehr daran, Si’eh verletzt zu haben.
»Also seid Ihr wirklich ein anderer«, sagte ich. Ich schlang meine Arme um meinen Körper. Es war kalt im Zimmer geworden, und ich trug nur ein dünnes Hemd und kurze Hosen zum Schlafen. »Si’eh sagte so etwas und T’vril ebenfalls. ›Solange der Himmel noch hell erleuchtet ist .. .‹«
»Die Dämmerung ist nicht meine Zeit«, sagte der Lord der Finsternis. »Am Tage bin ich ein Mensch. In der Nacht bin ich ... etwas, das meinem wahren Ich eher entspricht.« Er spreizte die Finger. »Die Verwandlung findet bei Sonnenuntergang und in der Morgendämmerung statt.«
»Und dann werdet Ihr ... das.« Ich vermied es sorgfältig, das Wort »Monster« auszusprechen.
»Wenn der sterbliche Geist auch nur für einen Moment von göttlicher Macht und Wissen erfüllt wird, reagiert er nur selten positiv darauf.«
»Und trotzdem kann Scimina Euch auch durch diesen Wahnsinn hindurch erreichen und Befehle erteilen?«
Er nickte. »Der Zwang von Itempas setzt alles andere außer Kraft.« Er machte eine Pause, und plötzlich konnte ich seine Augen klar erkennen — kalt, stählern und schwarz wie der Himmel. »Wenn du nicht willst, dass ich hier bin, befiehl mir, zu gehen.«
Man stelle sich das vor: Man hat die Befehlsgewalt über ein unglaublich mächtiges Wesen. Es muss sich einfach jeder Laune beugen. Wäre die Versuchung, es herabzuwürdigen, es zu erniedrigen und sich selber dadurch mächtig zu fühlen, nicht beinahe unwiderstehlich?
Ich denke, sie wäre es.
Ja, das wäre sie bestimmt.
»Ich würde lieber wissen, warum Ihr überhaupt hergekommen seid«, sagte ich. »Aber ich werde Euch nicht zu einer Erklärung zwingen.«
»Warum nicht?« In seiner Stimme lag etwas Gefährliches.
Warum war er verärgert? Weil ich Macht über ihn hatte und mich entschieden hatte, sie nicht auszuüben? Oder war er besorgt, dass ich es tun würde?
Schlagartig kam mir die Antwort auf seine Frage in den Sinn: weil es nicht richtig wäre. Ich zögerte jedoch, es auszusprechen. Die Antwort war auch nicht ganz korrekt — er hatte mein Zimmer ungefragt betreten, was in jedem Land unhöflich war. Wäre er ein Mensch, hätte ich ihm ohne zu zögern befohlen, zu gehen. Nicht Mensch ... wenn er frei gewesen wäre.
Aber er war nicht frei. Viraine hatte am Abend vorher, während er mein Siegel aufmalte, noch mehr erklärt. Meine Befehle an die Enefadeh mussten einfach und direkt sein. Ich musste bildhafte Sprache und Allgemeinplätze vermeiden, und vor allem musste ich genau durchdenken, was ich ihnen befahl, um keine ungewollten Konsequenzen auszulösen. Hätte ich so etwas wie »Nahadoth, hinaus mit Euch«, gesagt, so wäre es ihm freigestellt, nicht nur mein Zimmer, sondern auch den Palast zu verlassen. Der Himmelsvater allein wusste, was er dann anrichten würde, und nur Dekarta wäre in der Lage, ihn wieder zurückzuholen. Oder wenn ich sagte: »Nahadoth, schweigt«, dann hätte er schweigen müssen, bis ein anderer Vollblut-Arameri den Befehl widerrufen hätte.
Und falls ich jemals leichtsinnig genug wäre zu sagen: »Nahadoth, macht, was Ihr wollt«, dann würde er mich töten, weil es ihm Spaß machte, Arameri umzubringen. Das war schon mehrmals im Laufe der Jahrhunderte passiert, behauptete Viraine. Er nannte es »einen Dienst erweisen«, da sehr dumme Arameri normalerweise ausgemerzt wurden, bevor sie sich fortpflanzen oder der Familie weitere Peinlichkeiten bescheren konnten.
»Ich werde Euch keine Befehle erteilen, weil ich noch über das Bündnis nachdenke, das Eure Lady Kurue vorgeschlagen hat«, sagte ich schließlich. »Ein Bündnis sollte auf gegenseitigem Respekt beruhen.«
»Respekt ist unwichtig«, sagte er. »Ich bin dein Sklave.«
Ich konnte nicht anders und zuckte bei dem Wort zusammen. »Ich bin auch eine Gefangene hier.«
»Eine Gefangene, deren Befehle ich ausnahmslos befolgen muss. Entschuldige, wenn sich mein Mitgefühl in Grenzen hält.«
Mir gefiel das Schuldgefühl nicht, das seine Worte in mir auslösten.
Vielleicht ging deswegen mein Temperament mit mir durch, bevor ich die Zügel wieder anziehen konnte. »Ihr seid ein Gott«, fuhr ich ihn an. »Ihr seid ein tödliches Biest, das an die Leine gelegt wurde und schon einmal auf mich losgegangen ist. Ich mag zwar Macht über Euch haben, aber ich wäre eine Närrin, wenn ich mich deswegen sicher fühlte. Es ist viel klüger, Euch mit Höflichkeit zu begegnen, darum zu bitten, wenn ich etwas möchte und darauf zu hoffen, dass Ihr als Gegenleistung zu einer Mitarbeit bereit seid.«
»Bitte. Und dann befiehl.«
»Bitten, und wenn Ihr Nein sagt, diese Antwort akzeptieren. Das ist ebenfalls ein Stück weit Respekt.«
Er schwieg lange. Während dieses Schweigens wiederholte ich die Worte in meinem Kopf und betete, dass ich ihm kein Schlupfloch gelassen hatte, das er ausnutzen konnte.
»Du kannst nicht schlafen«, sagte er.
Ich blinzelte verwundert und erkannte dann, dass es sich um eine Frage handelte.
»Nein. Das Bett ... das Licht.«
Nahadoth nickte. Plötzlich wurden die Wände dunkel, ihr Licht verblasste, bis die Schatten den Raum einhüllten und die einzige Beleuchtung vom Mond, den Sternen und den Lichtern der Stadt stammte. Der Lord der Finsternis war ein noch dunklerer Schatten, der sich vom Fenster abhob. Er hatte sogar das Unlicht seines Gesichtes gelöscht.
»Du hast mir Höflichkeit entgegengebracht«, sagte er. »Ich biete Mitarbeit als Gegenleistung.«
Ich musste schlucken, da ich mich an meinen Traum mit dem schwarzen Stern erinnerte. Wenn das der Wahrheit entsprach — und es hatte sich sehr echt angefühlt, aber woher sollte man das bei Träumen wissen? —, dann war Nahadoth absolut in der Lage, die Welt zu zerstören, sogar in seinem jetzigen, geschwächten Zustand. Aber es war seine einfache Geste, das Licht zu löschen, die mich mit Ehrfurcht erfüllte. So müde wie ich war, bedeutete mir das mehr als die ganze Welt.