»Danke«, brachte ich schließlich hervor. »Und ...« Es war nicht möglich, das vorsichtig auszudrücken. »Würdet Ihr jetzt gehen? Bitte?«
Er war nur ein Umriss. »Ich sehe alles, was in der Dunkelheit geschieht«, sagte er. »Jedes Flüstern, jedes Seufzen höre ich. Selbst wenn ich gehe, bleibt ein Teil von mir zurück. Daran lässt sich nichts ändern.«
Seine Worte beunruhigten mich erst später. Jetzt war ich einfach nur dankbar. »Es wird genügen«, sagte ich. »Danke.«
Er neigte seinen Kopf und verschwand dann — nicht auf einmal, wie Si’eh es getan hatte, sondern er löste sich über die Spanne einiger Atemzüge hinweg auf. Auch als ich ihn nicht länger sehen konnte, spürte ich seine Anwesenheit, aber irgendwann verschwand auch das. Ich fühlte mich allein, egal ob gänzlich oder nicht.
Ich krabbelte wieder ins Bett und schlief innerhalb weniger Minuten ein.
Es gibt ein Märchen über den Lord der Finsternis, das die Priester zulassen.
Vor langer Zeit, noch vor dem Krieg der Götter, stieg der Lord der Finsternis auf die Erde herab und suchte Unterhaltung. Er fand eine Frau in einem Turm — die weggesperrte und einsame Ehefrau eines Regenten. Es war nicht schwer für ihn, sie zu verführen.
Einige Zeit später gebar die Frau ein Kind. Es war nicht das Kind ihres Mannes. Es war kein Mensch. Es war der erste der großen Dämonen, und nachdem dieses und weitere Kinder dieser Art geboren worden waren, erkannten die Götter, dass sie einen furchtbaren Fehler begangen hatten. Also spürten sie ihre eigenen Nachkommen auf und töteten alle bis hin zum kleinsten Säugling. Die Frau, die von ihrem Mann hinausgeworfen worden war, hatte nun auch noch ihr Kind verloren und erfror irgendwo einsam in einem verschneiten Wald.
Meine Großmutter erzählte mir eine andere Version des Märchens. Nachdem man die Dämonenkinder zur Strecke gebracht hatte, suchte der Lord der Finsternis die Frau noch einmal auf und bat sie um Verzeihung für das, was er getan hatte. Als Wiedergutmachung baute er ihr einen neuen Turm, gab ihr Reichtümer, damit sie ein angenehmes Leben führen konnte, und besuchte sie danach immer wieder, um sicherzustellen, dass es ihr gut ging.
Aber sie konnte ihm nie verzeihen, und schließlich beging sie in ihrer Trauer Selbstmord.
Die Moral der Priester: Nehmt euch vor dem Lord der Finsternis in Acht, da sein Vergnügen der Untergang der Sterblichen ist. Die Moral meiner Großmutter: Nehmt euch vor der Liebe in Acht, vor allem, wenn es sich um den falschen Mann handelt.
Cousin
Am nächsten Morgen erschien eine Bedienstete, um mir beim Ankleiden und Zurechtmachen zu helfen. Lächerlich. Dennoch schien es angebracht, wenigstens zu versuchen, sich wie eine Arameri zu benehmen, also biss ich mir auf die Zunge, während sie viel Aufhebens um mich machte. Sie schloss meine Knöpfe und zupfte ständig an meiner Kleidung herum, als ob ich dadurch eleganter aussehen würde. Dann bürstete sie mein kurzes Haar und half mir dabei, mich zu schminken. Bei Letzterem brauchte ich allerdings wirklich Hilfe, da Darrefrauen keine Kosmetik benutzen. Ich konnte mich einer gewissen Fassungslosigkeit nicht erwehren, als sie den Spiegel herumdrehte und ich mich in voller Kriegsbemalung sah. Es sah nicht schlecht aus. Nur ... seltsam.
Ich muss wohl allzu finster dreingeblickt haben, weil die Dienerin ängstlich wurde und dann in einer großen Tasche, die sie mitgebracht hatte, herumkramte. »Ich habe genau das Richtige«, sagte sie und zog etwas heraus, das auf den ersten Blick wie eine Partymaske aussah: eine Art Brillengestell aus Draht war an einem satinüberzogenen Stab angebracht. Aber die Maske war seltsam, sie schien fast nur aus einem Paar hellblauer Federn zu bestehen, die wie die Augen einer Pfauenfeder aussahen.
»Alle Damen von hohem Geblüt benutzen so was«, sagte die Dienerin eifrig. »Sie sind jetzt in Mode. Seht.« Sie hob das Gestell vor ihr Gesicht, so dass die blauen Augen ihre eigenen, grauen überlagerten. Sie blinzelte und senkte das Gestell wieder — und plötzlich waren ihre Augen hellblau und von langen, exotischen, dicken schwarzen Wimpern umrahmt. Ich starrte verblüfft, und dann fiel mir auf, dass die Augen in dem Gestell jetzt grau und ausdruckslos waren, umgeben von den ziemlich gewöhnlichen Wimpern der Dienerin. Sie hielt das Gestell wieder vor ihre Augen, und alles war wieder beim Alten.
»Seht Ihr?« Sie hielt mir den Stab hin. Jetzt konnte ich die winzigen, schwarzen und kaum sichtbaren Siegel erkennen, die an seinem Rand eingraviert waren. »Blau würde wunderbar zu dem Kleid passen.«
Ich wich zurück und brauchte noch ein paar Sekunden, bevor ich in der Lage war, zu sprechen. »W-wessen Augen waren das?«
»Was?«
»Die Augen, die Augen. Woher stammen sie?«
Die Dienerin starrte mich an, als ob ich gefragt hätte, wo der Mond herkommt. »Ich weiß nicht, Mylady«, sagte sie nach einer Verwirrtheitspause. »Ich könnte Nachforschungen anstellen, wenn Ihr es wünscht.«
»Nein«, sagte ich ganz leise. »Nicht nötig.«
Ich dankte der Dienerin für ihre Hilfe, lobte ihre Geschicklichkeit und ließ sie wissen, dass ich während meines weiteren Aufenthaltes in Elysium keine Ankleidezofe mehr benötigen würde.
Ein weiterer Diener erschien kurz darauf und überbrachte mir eine Nachricht von T’vriclass="underline" Wie erwartet hatte Relad meine Bitte, sich zu treffen, abgelehnt. Da wir Ruhetag hatten und keine Konsortiumssitzung stattfand, bestellte ich Frühstück und eine Abschrift der neuesten Finanzberichte aus den mir unterstellten Nationen.
Während ich die Berichte las, aß ich rohen Fisch und gedünstete Früchte. Eigentlich mochte ich das Essen der Amn, aber sie schienen nie zu wissen, was man kochen sollte und wovon man lieber die Finger ließ. Dann schaute Viraine vorbei. Angeblich, um zu sehen, wie es mir ging, aber ich hatte immer noch das Gefühl, dass er etwas von mir wollte. Dieses Gefühl verstärkte sich, als er in meinem Zimmer auf und ab ging.
»Es ist interessant, dass Ihr ein so aktives Interesse an Regierungsgeschäften zeigt«, sagte er, als ich einen Stapel Papiere beiseitelegte. »Die meisten Arameri machen sich nicht einmal die Mühe, die Grundbegriffe der Wirtschaft zu erlernen.«
»Ich herrsche — herrschte — über eine arme Nation«, sagte ich und deckte die Reste meines Frühstücks mit einem Tuch ab. »Diesen Luxus konnte ich mir nie erlauben.«
»Ah ja. Aber Ihr habt doch bereits Schritte unternommen, um diese Armut abzustellen, nicht wahr? Ich hörte, wie Dekarta heute Morgen darüber einen Kommentar verlor. Ihr habt die Euch unterstellten Königreiche angewiesen, die Handelsbeziehungen mit Darr wieder aufzunehmen.«
Ich hielt mitten im Teetrinken inne. »Er beobachtet, was ich tue?«
»Er beobachtet all seine Erben, Lady Yeine. Es gibt zurzeit kaum etwas anderes, das ihn unterhält.«
Ich dachte an die magische Kugel, die man mir gegeben hatte und mit der ich am Abend zuvor Kontakt zu meinen Ländern aufgenommen hatte. Ich fragte mich, wie schwer es wohl wäre, eine Kugel zu erschaffen, die sich bei der beobachteten Person nicht bemerkbar machte.
»Habt Ihr jetzt schon Geheimnisse?« Viraine zog wegen meines Schweigens amüsiert die Augenbrauen hoch. »Besucher in der Nacht, geheime Verabredungen, Verschwörungen im Gange?«
Ich hatte nie ein angeborenes Talent zum Lügen gehabt. Als meine Mutter das erkannte, brachte sie mir glücklicherweise andere Taktiken bei. »Das wäre hier doch scheinbar völlig normal«, sagte ich. »Obwohl ich bisher noch nicht versucht habe, jemanden zu töten. Ich habe die Zukunft unserer Zivilisation nicht zu meinem Vergnügen zu einem Gladiatorenkampf gemacht.«
»Wenn diese Kleinigkeiten Euch beunruhigen, Lady, dann werdet Ihr hier nicht lange durchhalten«, sagte Viraine. Er ging zu einem Sessel mir gegenüber, setzte sich hinein und legte die Fingerspitzen aneinander. »Möchtet Ihr einen Rat? Von jemandem, der hier auch einmal ein Neuankömmling war?«