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In seinen Worten lagen viele unerzählte Geschichten. Wie viele unserer Verwandten waren gezwungen worden, ihre Heimat und ihre Zukunft aufzugeben, um hier Böden aufzuwischen oder Gemüse zu putzen? Wie viele waren hier geboren worden und hatten nie fortgehen können? Was geschah mit denen, die versuchten, zu entkommen?

Würde ich eine von ihnen werden, wie T’vril?

Nein. T’vril war unwichtig, er war keine Gefahr für diejenigen, die bereitstanden, um die Macht der Familie zu erben. So viel Glück hatte ich nicht.

Er berührte meine Hand, und ich hoffte, dass das Mitleid ausdrücken sollte. »Es ist nicht weit.«

In den oberen Etagen schien Elysium nur noch aus Fenstern zu bestehen. Einige der Gänge hatten sogar Decken aus durchsichtigem Glas oder Kristall, obwohl es dort nur den Himmel und die vielen, abgerundeten Palastspitzen zu sehen gab. Die Sonne war noch nicht untergegangen — ihre unterste Krümmung berührte erst seit ein paar Minuten den Horizont —, aber T’vril ging schneller als vorher. Ich achtete genauer auf die Bediensteten, während wir unterwegs waren, und suchte nach den kleinen Gemeinsamkeiten unserer Abstammung. Einige waren vorhanden: viele grüne Augenpaare und bestimmte Gesichtszüge — die mir allerdings völlig fehlten, da ich nach meinem Vater geriet. Ein gewisser Zynismus, obwohl ich mir das möglicherweise einbildete. Darüber hinaus waren sie alle so unterschiedlich wie T’vril und ich, obwohl die meisten den Amn oder einem Volk der Senmiten angehörten. Und alle trugen diese Markierung auf der Stirn. Das war mir bereits vorher aufgefallen, aber ich hatte es als hiesige Modeerscheinung abgetan. Einige trugen Dreiecke oder Rauten, die meisten jedoch einen einfachen schwarzen Balken.

Mir gefiel es nicht, wie sie mich ansahen, sie warfen mir kurze Blicke zu und sahen sofort wieder weg.

»Lady Yeine.« T’vril blieb ein paar Schritte vor mir stehen, als er bemerkte, dass ich zurückgefallen war. Er hatte die langen Beine seiner Amnvorfahren geerbt. Bei mir war das nicht der Fall, außerdem war es ein sehr anstrengender Tag gewesen.

»Bitte, wir haben wenig Zeit.«

»Schon gut, schon gut«, sagte ich, da ich zu müde war, um wirklich höflich zu bleiben. Aber er ging nicht weiter, und nach einer Weile bemerkte ich, dass er stocksteif dastand und den Gang in die Richtung hinunterstarrte, in die wir gehen sollten.

Über uns stand ein Mann.

Ich bezeichne ihn rückblickend als Mann, weil er zu dem Zeitpunkt so aussah. Er stand auf einem Balkon, von dem aus man unseren Gang überblicken konnte, und wurde perfekt von dem Bogen der Decke eingerahmt. Ich nahm an, dass er über eine steile Rampe dorthin gelangt war. Sein Körper schien mitten in der Vorwärtsbewegung erstarrt zu sein. Nur sein Gesicht hatte sich uns zugewandt. Die Schatten spielten mir einen Streich, und ich konnte es nicht sehen, doch ich spürte, wie seine Blicke uns durchbohrten.

Er legte eine Hand mit einer langsamen, wohlüberlegten Bewegung auf das Geländer des Balkons.

»Was ist los, Naha?«, fragte eine Frauenstimme, und ein leises Echo hallte durch den Gang. Kurz darauf erschien die Sprecherin. Im Gegensatz zu dem Mann konnte ich sie deutlich erkennen: eine zerbrechliche Amnschönheit mit schwarzem Haar, den Gesichtszügen einer Patrizierin und königlicher Anmut. Aufgrund ihrer Haare erkannte ich sie als die Frau, die neben Dekarta im Salon gesessen hatte.

Sie trug ein Kleid, das nur einer Amnfrau gut stehen konnte: einen langen, gerade geschnittenen Schlauch in dem satten Blutrot von Granaten.

»Was siehst du da?«, fragte sie und schaute mich an, obwohl sie mit dem Mann sprach. Sie hob ihre Hände und drehte etwas zwischen ihren Fingern. Ich sah, dass sie eine zarte silberne Kette hielt. Diese hing von ihrer Hand herab und machte dann einen Bogen nach oben. Mir wurde klar, dass sie mit dem Mann verbunden war.

»Tante«, sagte T’vril und legte eine Betonung in seine Stimme, die mir sofort klarmachte, um wen es sich handelte. Lady Scimina, meine Cousine und Rivalin um die Erbfolge. »Ihr seht heute Abend reizend aus.«

»Ich danke dir, T’vril«, antwortete sie, obwohl sie mich unverwandt ansah. »Und wer ist das?«

Es gab eine winzige Pause. Der angespannte Ausdruck auf T’vrils Gesicht ließ mich annehmen, dass er nach einer unverfänglichen Antwort suchte. Eine meiner Eigenarten — bei uns erlauben nur schwache Frauen den Männern, sie zu beschützen — ließ mich vortreten und meinen Kopf neigen. »Mein Name ist Yeine Darr.«

Ihr Lächeln verriet, dass sie sich das bereits gedacht hatte. So viele Darrs gab es nicht in diesem Palast. »Ah ja. Jemand sprach von dir nach der Audienz meines Onkels heute. Du bist Kinneths Tochter, nicht wahr?«

»Das bin ich.« In Darr hätte ich wegen der Bosheit in ihrem süßen, betont höflichen Tonfall mein Messer gezogen. Aber wir waren in Elysium, dem Palast, der von Bright Itempas, dem Herrn von Ordnung und Frieden, gesegnet war. So etwas tat man hier nicht. Also sah ich T’vril an, und wartete, dass er sie vorstellte.

»Die Lady Scimina Arameri«, sagte er. Man muss ihm zugutehalten, dass er nicht mit der Wimper zuckte, aber ich sah, wie seine Blicke zwischen meiner Cousine und dem reglosen Mann hin- und hergingen. Ich wartete darauf, dass T’vril den Mann vorstellte, aber er tat es nicht.

»Ah ja.« Ich versuchte, Seiminas Ton nicht nachzuäffen. Meine Mutter hatte mehrfach versucht, mir beizubringen, wie man freundlich klingt, wenn man keine freundlichen Gefühle hegt, aber dafür war ich zu sehr Darre. »Sei gegrüßt, Cousine.«

»Wenn Ihr uns entschuldigt«, sagte T’vril fast genau in dem Moment, als ich meinen Mund schloss, »ich zeige Lady Yeine den Palast ...«

Der Mann neben Scimina beschloss in diesem Moment, mit einem schaurigen Keuchen nach Luft zu schnappen. Sein Haar, das lang, schwarz und dick genug war, um jeden Darremann neidisch werden zu lassen, fiel nach vorne und verdeckte sein Gesicht; sein Griff um das Geländer wurde fester.

»Einen Moment noch, T’vril.« Scimina betrachtete den Mann nachdenklich, dann hob sie ihre Hand, als ob sie sie unter dem Haarvorhang um seine Wange legen wollte. Ein Klicken war zu hören, und sie zog ein feingliedriges Halsband hervor.

»Ich bedaure, Tante«, sagte T’vril und versuchte jetzt nicht länger, seine Angst zu verbergen. Er ergriff meine Hand und umklammerte sie. »Viraine wartet auf uns, und Ihr wisst, wie sehr er es hasst ...«

»Du wirst warten«, sagte Scimina, ihre Stimme im Nu eiskalt. »Oder ich könnte vergessen, dass du dich sehr nützlich gemacht hast, T’vril. Ein braver, kleiner Diener ...« Sie schaute kurz zu dem schwarzhaarigen Mann und lächelte nachsichtig. »Es gibt so viele gute Bedienstete hier in Elysium. Meinst du nicht auch, Nahadoth?«

Also war Nahadoth der Name des Schwarzhaarigen. Irgendwo hatte ich den Namen schon einmal gehört, aber ich wusste nicht, wo.

»Tut das nicht«, sagte T’vril. »Scimina.«

»Sie hat kein Mal«, antwortete Scimina. »Du kennst die Regeln.«

»Das hat nichts mit den Regeln zu tun, und das wisst Ihr!« sagte T’vril etwas hitzig. Aber sie beachtete ihn nicht.

Dann spürte ich es. Ich glaube, ich hatte es seit dem Luftschnappen des Mannes gespürt... ein Erzittern der Atmosphäre. In der Nähe klapperte eine Vase. Es gab keinen sichtbaren Grund dafür, aber irgendwie wusste ich es: Irgendwo, auf einer unsichtbaren Ebene, wurde ein Stück der Realität zur Seite geschoben. Und machte Platz für etwas Neues.

Der schwarzhaarige Mann hob seinen Kopf und sah mich an. Er lächelte. Ich konnte jetzt sein Gesicht sehen und den absoluten Wahnsinn in seinen Augen, und plötzlich wusste ich, wer er war. Was er war.

»Hört mir zu.« T’vrils angespannte Stimme drang an mein Ohr. Ich konnte den Blick nicht von den Augen der schwarzhaarigen Kreatur abwenden. »Ihr müsst zu Viraine. Nur ein Vollblut kann ihn jetzt zurückrufen, und Viraine ist der Einzige ... oh, zum Dämonen noch mal, schaut mich an!«