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Der eine Schritt genügte, um mich aus meiner Lähmung zu reißen. Ich stolperte rückwärts und wäre schreiend davongerannt, wenn ich gewusst hätte, wie man die Wände öffnete.

»Nicht wegrennen!« Si’ehs Stimme war scharf wie ein Peitschenknall. Ich erstarrte.

Nahadoth machte noch einen Schritt nach vorne und war jetzt nah genug, dass ich sehen konnte, wie ihn ein winziger Schauer durchlief. Seine Hände ballten sich zu Fäusten. Er öffnete seinen Mund, mühte sich einen Moment ab und sprach dann. »V-vorhersehbar, Si’eh.« Seine Stimme war tief, aber erschreckend menschlich. Ich hatte ein tierisches Knurren erwartet.

Si’eh zog die Schultern hoch und war wieder ein schmollender kleiner Junge. »Ich hätte nicht gedacht, dass du uns so schnell einholen würdest.« Er legte seinen Kopf schief, betrachtete Naha- doths Gesicht und sprach langsam, wie mit einem Einfaltspinsel. »Du bist hier, oder?«

»Ich kann es sehen«, flüsterte der Lord der Finsternis. Sein Blick war starr auf mein Gesicht gerichtet.

Zu meiner Überraschung nickte Si’eh, als ob er wüsste, was dieses Gefasel zu bedeuten hatte. »Ich habe das auch nicht erwartet«, sagte er sanft. »Aber vielleicht erinnerst du dich jetzt — wir brauchen diese hier. Erinnerst du dich?« Si’eh trat vor und griff nach seiner Hand.

Es war nicht zu erkennen, ob die Hand sich bewegte. Ich beobachtete Nahadoths Gesicht und sah nur, wie blindwütige Mordlust in seinen Gesichtszügen aufflackerte. Dann lag eine seiner Hände um Si’ehs Kehle. Si’eh hatte keine Chance aufzuschreien, bevor er den Boden unter den Füßen verlor und röchelnd und zappelnd in die Luft gehoben wurde.

Einen Atemzug lang war ich zu geschockt, um zu reagieren.

Dann wurde ich wütend.

Ich kochte geradezu vor Wut — und auch Wahnsinn, denn das war die einzige Erklärung für das, was ich danach tat. Ich zog mein Messer und schrie: »Lass ihn in Ruhe!«

Genausogut hätte ein Kaninchen einen Wolf bedrohen können. Aber zu meinem blanken Entsetzen schaute der Lord der Finsternis mich an. Er ließ Si’eh nicht herunter, aber er blinzelte. So schnell war der Wahnsinn von ihm abgefallen und war durch einen Ausdruck der Überraschung und aufkommende Verwunderung ersetzt worden. Er sah so aus wie ein Mann, der gerade einen Schatz unter einem Haufen Abfall entdeckt hatte. Aber er würgte immer noch Si’eh.

»Lass ihn los!« Ich ging in die Hocke, um meine Haltung zu verändern, wie meine Großmutter aus Darre es mir beigebracht hatte. Meine Hände zitterten, aber nicht vor Angst, sondern vor rasendem, gerechtem Zorn. Si’eh war ein Kind. »Hör auf damit!«

Nahadoth lächelte.

Ich sprang. Das Messer drang tief in seine Brust ein, bevor es so plötzlich auf Knochen stieß, dass mir der Griff aus der Hand gerissen wurde. Einen Augenblick versuchte ich, mich auf seiner Brust abzustützen und ihn wegzuschieben. Ich staunte, dass er aus echtem Fleisch und Blut war, trotz der Macht, die ihn umgab. Ich staunte noch mehr, als seine freie Hand sich wie ein Schraubstock um mein Handgelenk legte. So schnell, obwohl doch ein Messer in seinem Herzen steckte.

Mit der Kraft dieser Hand hätte er mein Handgelenk zermalmen können, doch stattdessen hielt er mich nur fest. Sein Blut bedeckte meine Hand und war noch heißer als meine Wut. Ich schaute zu ihm auf, der Ausdruck in seinen Augen war warm, sanft, verzweifelt. Menschlich.

»Ich habe so lange auf dich gewartet«, hauchte der Gott. Dann küsste er mich — und fiel um.

Magier

Während der Lord der Finsternis zu Boden sank, ließ er Si’eh fallen, und ich wäre auch beinahe gestürzt. Ich hatte keine Ahnung, warum ich noch lebte. In den Geschichten über die Waffen der Arameri wurde immer erzählt, wie sie ganze Armeen abschlachteten. Es gab keine Geschichten über verrückt gewordene Barbarinnen, die sich wehrten.

Zu meiner großen Erleichterung stemmte sich Si’eh hoch auf seine Ellenbogen. Ihm schien nichts zu fehlen, obwohl seine Augen beim Anblick von Nahadoths regungslosem Körper kugelrund wurden. »Schau, was du angerichtet hast!«

»Ich ...«, ich zitterte so sehr, dass ich fast nicht sprechen konnte. »Ich wollte nicht ... er war dabei, dich zu töten. Das konnte ich ...«, ich schluckte schwer, »... nicht zulassen.«

»Nahadoth hätte Si’eh nicht getötet«, sagte eine neue Stimme hinter mir. Das war zu viel für meine Nerven. Ich sprang auf und griff nach dem Messer, das sich nicht länger in seiner Scheide hinter meinem Rücken befand. Eine Frau löste sich aus dem geräuschlosen Dahintreiben von Si’ehs Spielzeugen. Als Erstes bemerkte ich, dass sie riesig war, wie die großen Kriegsschiffe der Ken. Sie war auch wie eins dieser Schiffe gebaut, breit und kraftvoll, aber gleichzeitig erstaunlich anmutig. Sie hatte kein Gramm Fett zu viel. Ihre Rasse konnte ich nicht erahnen, weil keine Frau irgendeiner Rasse, die ich kannte, so verdammt groß war.

Sie kniete sich hin, um Si’eh aufzuhelfen. Si’eh zitterte ebenfalls, allerdings vor Aufregung. »Hast du gesehen, was sie gemacht hat?«, fragte er die Neuangekommene. Er zeigte auf Nahadoth und grinste dabei.

»Ja, ich habe es gesehen.« Die Frau stellte Si’eh auf seine Füße und wandte sich mir zu, um mich für einen Moment anzuschauen. Selbst auf Knien war sie noch größer als Si’eh, der stand. Ihre Kleidung war einfach: graue Tunika, graue Hose — und ein graues Tuch bedeckte ihre Haare. Vielleicht lag es an diesem Grau, aber nach dem erbarmungslosen Schwarz des Lords der Finsternis schien sie mir eine im Wesentlichen sanfte Ausstrahlung zu haben.

»Es gibt keinen größeren Krieger als eine Mutter, die ihr Kind beschützt«, sagte die Frau. »Aber Si’eh ist bei Weitem nicht so zerbrechlich wie Ihr, Lady Yeine.«

Ich nickte langsam und ließ nicht zu, dass ich mir wie eine Närrin vorkam. Logik hatte mit dem, was ich getan hatte, nichts zu tun.

Si’eh kam herüber und nahm meine Hand. »Trotzdem danke«, sagte er schüchtern. Der violette, hässliche Handabdruck um seinen Hals verblasste zusehends.

Wir alle schauten hinüber zu Nahadoth. Er kniete immer noch so, wie er zusammengesackt war, das Messer steckte bis zum Heft in seiner Brust, und sein Kopf \Var vornübergefallen. Die graue Frau seufzte leise, ging zu ihm hin und zog das Messer heraus. Ich hatte gespürt, wie es sich in den Knochen bohrte, aber sie zog es mit Leichtigkeit heraus. Sie betrachtete es, schüttelte den Kopf und bot es mir dann mit dem Heft zuerst dar.

Ich zwang mich, es anzunehmen und meine Hand erneut mit dem Blut des Gottes zu besudeln. Meine Hand zitterte so sehr, dass ich der Meinung war, sie hielt die Klinge fester als notwendig. Aber während ich das Heft besser in den Griff bekam, glitten ihre Finger die Klinge entlang. Als ich das Messer wieder in der Hand hielt, bemerkte ich, dass es nicht nur vom Blut gesäubert war, sondern dass es auch eine andere Form hatte — gekrümmt und feingeschliffen.

»Das steht Euch besser«, sagte die Frau und nickte ernst, als ich sie anstarrte. Gedankenverloren steckte ich das Messer in seine Scheide, die sich hinter meinem Rücken befand; dabei hätte es dort nicht mehr hineinpassen dürfen. Es passte aber — die Scheide hatte ebenfalls ihre Form geändert.

»Aha, Zhakka, du magst sie.« Si’eh lehnte sich an mich, umschlang meine Taille mit seinen Armen, und sein Kopf ruhte an meiner Brust. Unsterblich oder nicht — es lag eine tiefe Unschuld darin, wie er das tat, so dass ich ihn nicht wegschob. Ohne nachzudenken legte ich meinen Arm um ihn, und er stieß einen tiefen, zufriedenen Seufzer aus.