»Ja«, sagte die Frau schlicht. Sie lehnte sich vor und schaute in Nahadoths Gesicht. »Vater?«
Ich sprang nicht auf, weil Si’eh sich an mich lehnte, aber er spürte, wie ich mich versteifte. »Schhhh«, sagte er und streichelte meinen Rücken. Der Berührung fehlte das Kindliche, so dass sie nicht allzu beruhigend wirkte. Kurz darauf bewegte sich Nahadoth.
»Du bist wieder da«, sagte Si’eh und richtete sich mit einem fröhlichen Lächeln auf. Ich ergriff die Gelegenheit und machte einen Schritt weg von Nahadoth. Si’eh ergriff schnell meine Hand und war sehr ernst. »Ist schon gut, Yeine. Er ist jetzt anders. Du bist sicher.«
»Sie wird dir nicht glauben.« Nahadoth klang wie ein Mann, der aus einem tiefen Schlaf erwachte. »Sie wird uns nicht trauen, jetzt nicht mehr.«
»Das ist nicht dein Fehler.« Si’eh klang unglücklich. »Wir müssen es ihr nur erklären, dann wird sie es verstehen.«
Nahadoth sah mich an, woraufhin ich wieder erschreckt aufsprang, obwohl sein Wahnsinn scheinbar verflogen war. Auch seinen anderen Ausdruck sah ich nicht — den, als er meine Hand in seinem Herzblut festhielt und leise, sehnsüchtige Worte flüsterte. Und der Kuss ... nein. Das hatte ich mir eingebildet. So viel war sicher, denn der Lord der Finsternis, der jetzt vor mir saß, wirkte gleichgültig, selbst auf seinen Knien noch majestätisch und voller Verachtung.
»Wirst du verstehen?«, fragte er mich.
Ich konnte nicht anders — als Antwort wich ich noch einen weiteren Schritt zurück.
Nahadoth schüttelte den Kopf, stand auf und nickte der Frau, die Si’eh Zhakka genannt hatte, würdevoll zu. Obwohl Zhakka Nahadoth überragte, gab es keine Frage, wer ranghöher und wer untergeordnet war.
»Wir haben dafür keine Zeit«, sagte Nahadoth. »Viraine wird nach ihr suchen. Gebt ihr das Siegel und lasst es gut sein.« Zhakka nickte und kam auf mich zu. Ich machte einen dritten Schritt zurück, weil mich die Entschlossenheit, die ich in ihren Augen sah, verunsicherte.
Si’eh ließ mich los und stand zwischen uns, ein Floh, der einem Hund die Stirn bot. Er reichte Zhakka kaum bis an die Hüfte. »Es war nicht geplant, dass wir es so tun. Wir hatten uns geeinigt, dass wir versuchen, sie zu überzeugen.«
»Das ist jetzt nicht mehr möglich«, erklärte Nahadoth.
»Und was sollte sie dann davon abhalten, das hier Viraine zu erzählen?«
Si’eh stemmte seine Hände in seine Hüften. Zhakka war stehengeblieben und wartete geduldig darauf, dass der Streit ein Ende fand. Ich fühlte mich vergessen und äußerst unwichtig — was wohl auch so war, wenn man bedenkt, dass ich mich in der Gegenwart dreier Götter befand. Die Bezeichnung ehemalige Götter wollte hier nicht so recht passen.
Nahadoths Gesichtsausdruck zeigte so etwas wie ein Lächeln. Er warf mir einen Blick zu. »Erzähle es Viraine, und wir werden dich töten.« Sein Blick kehrte zu Si’eh zurück. »Zufrieden?«
Ich muss müde gewesen sein. Nach so vielen Drohungen an diesem Abend zuckte ich nicht einmal mehr mit der Wimper.
Si’eh schaute finster drein und schüttelte den Kopf, aber er ließ Zhakka vorbei. »So hatten wir das nicht geplant«, sagte er mit einem Anflug von Gereiztheit.
»Pläne ändern sich«, sagte Zhakka. Dann stand sie vor mir.
»Was habt ihr vor?«, fragte ich. Trotz ihrer Größe fand ich sie nicht halb so beängstigend wie Nahadoth.
»Ich werde deine Stirn mit einem Siegel versehen«, sagte sie. »Einem, das unsichtbar ist. Es wird die Wirkung des Siegels, das du von Viraine bekommen sollst, beeinträchtigen. Du wirst wie eine von ihnen aussehen, aber in Wahrheit wirst du frei sein.«
»Sind sie ...« All die Arameri, die ein Siegel tragen? Meinte sie die? »... nicht frei?«
»Nicht mehr als wir, auch wenn sie das ganz anders sehen«, sagte Nahadoth. Da war es wieder, nur für diesen kurzen Moment, dieses Sanfte, das ich vorher an ihm erlebt hatte. Dann wandte er sich ab. »Beeilt euch.«
Zhakka nickte und berührte meine Stirn mit einer Fingerspitze. Ihre Fäuste waren so groß wie Teller, ihr Finger schien wie ein Brandeisen zu glühen, als er mich berührte. Ich schrie auf und versuchte, ihren Finger beiseitezuschlagen, aber sie nahm ihre Hand schon vorher weg. Sie war fertig.
Si’eh, der sein Schmollen vergessen hatte, schaute prüfend auf die Stelle und nickte weise. »Das wird reichen.«
»Dann bringt sie zu Viraine«, sagte Zhakka. Zum Abschied neigte sie höflich den Kopf vor mir, dann wandte sie sich ab und gesellte sich zu Nahadoth.
Si’eh nahm meine Hand. Ich war so verwirrt und aufgewühlt, dass ich keinen Widerstand leistete, als er mich zu der nächstgelegenen Wand führte. Trotzdem warf ich einmal einen Blick zurück über meine Schulter, um zu sehen, wie der Lord der Finsternis davonging.
Meine Mutter war die schönste Frau der Welt. Ich sage das nicht, weil ich ihre Tochter bin, und auch nicht, weil sie groß und anmutig war und Haare wie wolkenverhangenes Sonnenlicht hatte. Ich sage das, weil sie stark war. Vielleicht habe ich das von den Darre geerbt, aber in meinen Augen war Stärke schon immer ein Zeichen von Schönheit.
Mein Volk war nicht freundlich zu ihr. Niemand sagte es in Anwesenheit meines Vaters, aber ich hörte das Getuschel, wenn sie manchmal durch Arrebaia ging. Amnhure. Knochenblasses Luder. Sie spuckten hinter ihr auf den Boden, um die Straßen von ihrem Arameri-Makel zu reinigen. Trotz all dem bewahrte sie ihre Würde und behandelte genau die Leute mit ausgesuchter Höflichkeit, die sie ihr verweigerten. In einer der wenigen klaren Erinnerungen, die ich an meinen Vater habe, sagte er, dass sie ihnen dadurch überlegen war.
Ich weiß nicht, warum ich mich ausgerechnet jetzt daran erinnere, aber ich bin sicher, dass es irgendwie wichtig ist.
Nachdem wir den ungenutzten Raum verlassen hatten, ließ Si’eh mich rennen, damit ich außer Atem war, als wir Viraines Werkstatt erreichten.
Viraine öffnete nach Si’ehs drittem, ungeduldigem Klopfen die Tür und sah verwirrt aus. Der weißhaarige Mann von Dekartas Audienz, der mich »nicht hoffnungslos« fand.
»Si’eh? Was zum Dämonen — ah.« Er sah mich an und zog die Augenbrauen hoch. »Ja, ich dachte mir doch, dass T’vril zu lange braucht. Die Sonne ist vor fast einer Stunde untergegangen.«
»Scimina hat Naha auf sie gehetzt«, sagte Si’eh. Dann sah er zu mir hoch. »Aber das Spiel sollte zu Ende sein, wenn du es bis hierher schaffst, nicht wahr? Du bist jetzt in Sicherheit.«
Also so sah meine Rechtfertigung aus. »So hat T’vril es gesagt.« Ich warf einen Blick den Gang entlang, so als ob ich noch immer Angst hätte. Das war nicht schwer vorzutäuschen.
»Scimina wird ihm bestimmte Vorgaben gemacht haben«, sagte Viraine. Das sollte mich wohl beruhigen. »Sie weiß, wie er in dem Zustand ist. Tretet ein, Lady Yeine.«
Er ging beiseite, und ich betrat das Zimmer. Auch wenn ich nicht todmüde gewesen wäre, hätte ich an der Stelle innegehalten, weil ich mich in einem Raum befand, wie ich ihn noch nie zuvor gesehen hatte. Er war lang und oval, und entlang der beiden längeren Wände befanden sich Fenster, die vom Boden bis zur Decke reichten. Auf beiden Seiten des Zimmers befanden sich in Zweierreihen Arbeitstische — auf allen sah ich Bücher, Fläschchen und seltsame Gerätschaften. An der jenseitigen Wand standen Käfige, in einigen befanden sich Kaninchen und Vögel. In der Mitte des Zimmers war eine riesige weiße Kugel, die auf einem Sockel stand. Sie war so groß wie ich, und man konnte nicht hindurchsehen.
»Hier drüben«, sagte Viraine und ging zu einem der Arbeitstische. Davor standen zwei Hocker. Er wählte einen davon und klopfte mit der Hand auf den anderen, um zu zeigen, dass er für mich sei. Ich folgte ihm und zögerte dann.
»Ich fürchte, Ihr seid mir im Vorteil, Sir.«
Er sah überrascht aus, dann lächelte er und verbeugte sich lässig, beinahe ein wenig spöttisch. »Ah ja, Manieren. Ich bin Viraine, der Palastschreiber. Außerdem auf die ein oder andere Art auch mit Euch verwandt — viel zu weit entfernt, um es noch festzustellen, obwohl Lord Dekarta es für angebracht hielt, mich in den engsten Familienkreis aufzunehmen.« Er tippte an den schwarzen Kreis auf seiner Stirn.