John Norman
Die Erforscher von Gor
1
Sie war wunderschön.
Sie kniete an dem niedrigen kleinen Tisch, hinter dem ich saß. Wir befanden uns im großen Saal des Samos, der uns, ebenfalls im Schneidersitz hockend, Gesellschaft leistete. Es war früher Abend in Port Kar, und ich hatte mit Samos gegessen, dem Ersten Kapitän des Kapitänsrates, jener hohen Vereinigung, die in Port Kar die Macht innehatte. Brennende Fackeln erleuchteten den großen Raum, der das riesige Landkartenmosaik enthielt.
Das Abendessen war uns von der Sklavin gebracht worden, die jetzt in unserer Nähe kniete.
Ich betrachtete sie. Sie trug eine einteilige Reptuch-Tunika, an den Beinen hoch eingeschnitten, um sie besser zur Geltung zu bringen, um den Hals einen Schließkragen aus Stahl und am Bein das Brandzeichen, das übliche Kajira-Zeichen Gors, der erste Buchstabe des Wortes Kajira, etwa anderthalb Zoll hoch und einen halben Zoll breit.
»Haben die Herren noch Wünsche an Linda?« fragte das Mädchen.
»Nein«, antwortete Samos.
Mit gesenktem Kopf zog sie sich zurück. Sie nahm das kleine Tablett von dem Gestell am Tisch. Es enthielt das Gefäß mit dem dicken süßen Likör aus dem fernen Turia, dem Ar des Südens, und die beiden winzigen Gläser, aus denen wir getrunken hatten. Ebenfalls stand darauf das Metallgefäß, in dem sich der dampfende, bitter schmeckende Wein des fernen Thentis befunden hatte, einer Stadt, die berühmt war wegen ihrer Tarn-Schwärme. Außerdem befanden sich darauf die dazugehörigen Trinkgefäße wie auch die weichen, feuchten Tücher, mit denen wir uns die Hände abgewischt hatten.
Es war eine vorzügliche Mahlzeit gewesen.
Sie stand auf, das Tablett in den Händen. Der schimmernde Kragen schmiegte sich ihr an den Hals.
Ich erinnerte mich, daß sie vor etlichen Monaten noch einen einfachen Eisenkragen getragen hatte, von brutalen Hammerschlägen festgemacht.
Sie blickte Samos an. Ihre Lippen bebten.
Sie war das Mädchen, welches die Botschaft der Scytale ins Haus des Samos gebracht hatte, ein speziell markiertes Haarband, das man um einen Speerschaft wickeln mußte, um die Nachricht sichtbar werden zu lassen. Zarendargar, auch Halb-Ohr genannt, Kriegsherr der Kurii, hatte mir ausrichten lassen, daß er mich am ›Ende der Welt‹ sehen wolle. Meine Vermutung, daß er damit den Pol der nördlichen Gor-Halbkugel gemeint hatte, erwies sich als richtig. An jenem Ort war ich Halb-Ohr in einem riesigen Komplex entgegengetreten, in einem ausgedehnten Versorgungsdepot, das Waffen, Treibstoff und andere Vorräte enthielt, mit denen die geplante Invasion Gors, der Gegenerde, unterstützt werden sollte.
Das Mädchen, das uns heute abend bedient hatte, wußte damals nicht, daß es eine Botschaft beförderte.
Wie anders erschien sie mir heute! Als sie in Samos’ Haus gebracht wurde, trug sie noch die barbarische Kleidung der Erde, jene männerimitierende Aufmachung, die so sehr von ihrer Weiblichkeit ablenkte. Samos hatte die Bedeutung des Halsbandes sofort erkannt und mich aufgefordert zu kommen. Ich hatte das Mädchen ebenfalls verhört, das damals nur Englisch verstand. Ich wußte noch, wie arrogant sie gewesen war, bis sie erfuhr, daß sie sich nicht mehr unter Männern befand, wie sie sie von der Erde gewohnt war. Samos hatte sie in den Keller bringen und brandmarken lassen, und dann hatten sich die Wächter mit ihr vergnügt. Ich hatte gedacht, er würde sie verkaufen, doch er hatte sie behalten. Sie war bei ihm im Haus geblieben und wußte inzwischen, was es bedeutete, den Kragen zu tragen.
»Du kannst dich zurückziehen«, sagte Samos zu dem Mädchen.
»Herr!« flehte sie mit tränenerstickter Stimme.
Vor wenigen Monaten hatte sie das Goreanische noch nicht beherrscht, jetzt sprach sie es fließend und in allen Nuancen. Mädchen stellen sich schnell auf die Sprache ein, die ihr Herr spricht.
Samos blickte zu ihr auf. »Bring die Sachen in die Küche und erwarte meine weiteren Befehle«, sagte er.
»Ja, Herr«, erwiderte sie und wandte sich ab.
Samos war sicher einer der strengsten Männer auf Gor. Das Mädchen hatte einen rücksichtslosen, wenig kompromißbereiten Herrn gefunden.
»Aber sprechen wir nicht mehr von Sklavinnen«, sagte ich, »die dem Vergnügen der Männer dienen, sondern von ernsteren Dingen!«
»Einverstanden«, meinte er. »Es gibt allerdings wenig Neues zu berichten.«
»Die Kurii sind sehr ruhig«, sagte ich.
»Ja.«
»Hüte dich vor einem ruhigen Feind!« sagte ich lächelnd.
»Natürlich.«
»Es ist ungewöhnlich, daß du mich in dein Haus einlädst, um mir zu sagen, daß du mir nichts mitzuteilen hast.«
»Meinst du, du bist der einzige, der ab und zu im Interesse der Priesterkönige tätig ist?«
»Wohl nicht«, gab ich zurück. »Aber was soll die Frage?«
»Wie wenig wir doch von unserer Welt wissen!« seufzte Samos.
»Ich verstehe nicht, was du meinst.«
»Erzähl mir, was du über den Cartius weißt.«
»Eine wichtige subäquatoriale Wasserstraße«, erklärte ich. »Er verläuft in nordnordwestlicher Richtung, durchströmt die Regenwälder und mündet in den Ushindi-See, von dem dann die Flüsse Kamba und Nyoka abzweigen. Der Kamba mündet direkt ins Thassa. Der Nyoka mündet in den Hafen der Stadt Schendi und fließt von dort weiter ins Thassa.« Schendi war ein Freihafen in der Äquatorzone Gors und auf dem ganzen Planeten bekannt. Es war zugleich der Heimathafen der Liga der Schwarzen Sklavenhändler.
»Es wurden einmal Mutmaßungen angestellt, der eigentliche Cartius sei ein Zufluß des Vosk«, bemerkte Samos.
»So hat man mir erzählt«, bemerkte ich.
»Wir wissen inzwischen aber, daß der Thassa-Cartius und der subäquatoriale Cartius nicht ein und derselbe Fluß sind.«
»Man hatte angenommen und auf zahlreichen Landkarten festgehalten«, sagte ich, »daß der subäquatoriale Cartius nicht nur in den Ushindi-See mündet, sondern im Norden wieder hervortritt und das geneigte Flachland im Westen durchquert, um bei Turmus in den Vosk zu münden. Turmus war der letzte große Flußhafen am Vosk, ehe die beinahe unüberwindlichen Sümpfe des Mündungsdeltas begannen.
Der schwarze Geograph von der Insel Anango hatte berechnet, daß die beiden Flüsse in Anbetracht der Höhenunterschiede nicht identisch sein können. Sein Schüler Shaba war der erste, der den Ushindi-See umfuhr. Er stellte fest, daß der Cartius – wie bekannt – in den Ushindi-See mündet, daß aber nur zwei Flüsse diesen See wieder verlassen, der Kamba und der Nyoka. Die Quelle des Vosk-Nebenflusses, jetzt Thassa-Cartius geheißen, wurde fünf Jahre später von dem Forscher Ramus von Tabor gefunden, der sich neun Monate lang mit seiner kleinen Expedition unter den Flußstämmen umtat und über die sechs Katarakte hinaus in das Ven-Hochland vordrang. Der Thassa-Cartius entwässert mit seinen Nebenflüssen dieses Hochgebiet und die davon abfallenden Ebenen.«
»Das weiß ich seit gut einem Jahr«, sagte ich. »Warum sprichst du jetzt davon?«
»Wir wissen ja so viele Dinge nicht«, sagte Samos nachdenklich.
Ich zuckte die Achseln. Es gab auf Gor noch viele Gebiete, die unerforscht waren. Nur wenige Menschen kannten sich beispielsweise in den Territorien östlich der Voltai- und Thentisberge aus oder westlich der entlegeneren Inseln bei Cos und Tyros. Noch unbefriedigender war natürlich der Umstand, daß noch nördlich Schendis, im Süden des Vosk und westlich Ars weite, unerschlossene Gebiete lagen. »Es gab gute Gründe anzunehmen, daß der Cartius über den Ushindi-See zum Vosk führt«, sagte ich.
»Ich weiß«, gab Samos zurück. »Die Tradition – und die Richtung, die die Flüsse nahmen. Wer hätte in den Städten schon begreifen können, daß es nicht ein und derselbe Strom war?«
»Selbst die Bootsführer auf dem subäquatorialen Cartius und jene des weit im Norden liegenden Thassa-Cartius dachten, es wäre nur ein Fluß.«
»Ja«, sagte Samos. »Bis Ramani seine Berechnungen anstellte und Shaba und Ramus ihre Expeditionen durchführten – wer hätte da Grund gehabt, etwas anderes anzunehmen?«