»Dann wollen wir uns beeilen«, sagte sie.
Wir verließen das Zimmer.
»Du hast kräftige Hände«, fuhr sie fort. »Gehörst du der Kaste der Töpfer an?« »Nein«, sagte ich. »Jetzt aber still!« »Ja, Herr.«
10
Der blinde Mann richtete seine blicklosen weißen Augen auf mich und streckte die dünne schwarze Hand aus, die wie eine Klaue aussah.
Ich legte eine Kupfermünze hinein.
»Du bist Kipofu?« fragte ich dabei.
Der ersten Münze ließ ich eine zweite folgen. Die beiden winzigen Geldstücke legte er in eine kleine Kupferschale, die vor ihm stand. Mit untergeschlagenen Beinen saß er auf einem flachen rechteckigen Stein, der etwa einen Fuß hoch war und sich am Westende des großen Utukufu-Platzes befand, des Ruhm-Platzes. Er war der Ubar der Bettler in Schendi.
»Ich bin Kipofu«, antwortete er.
»Es heißt«, sagte ich, »daß es in Schendi nur wenig gibt, was du nicht siehst, obwohl du blind bist.«
Er lächelte. Mit dem Daumen rieb er sich über die Nase.
»Ich hätte gern eine Information«, fuhr ich fort.
»Ich bin nur ein armer Blinder«, antwortete er und breitete entschuldigend die Hände aus.
»In Schendi passiert nur wenig, das deiner Aufmerksamkeit entgeht«, sagte ich.
»Auskunft kann teuer sein«, meinte er.
»Ich kann bezahlen«, sagte ich. »Und zwar gut.«
»Was willst du wissen?« fragte er.
Er trug bräunliche Lumpen und hatte sich zum Schutz vor der Sonne ein braunes Tuch um den Kopf gebunden. Seine Arme und Beine waren schmutzverkrustet. Neben einem seiner Knie lag die Schale einer Larmafrucht. Er war blind, halb nackt, verdreckt – doch ich wußte, er war der Ubar der Bettler von Schendi. Sie hatten ihn zum Herrscher erwählt. Es wurde behauptet, der Grund sei darin zu sehen, daß nur er blind sei und nicht sehen könne, wie widerlich seine Untergebenen waren. Vor ihm mochten die Entstellten und Krüppel sich als Menschen behaupten, als Untergebene vor ihrem Herrn; hier hatten sie die Chance, objektiv angehört zu werden und eine leidenschaftslose, ehrliche Entscheidung zu hören, ohne die Verachtung oder die herablassende Großmut eines Mannes, der sich den anderen überlegen sah. Doch wenn in diesem Gerücht eine gewisse Wahrheit lag, so ging es hier doch um mehr. Kipofu war zwar in mancher Hinsicht ein gieriger und kleinkrämerisch denkender Mann, doch zugleich besaß er in der Tat etwas von einem Herrscher. Er war ein sehr intelligenter Mann, der nicht nur schlau, sondern gelegentlich auch weise zu entscheiden vermochte. Er war ein Mann des eisernen Willens, der entschlossen handelte. Er war es, der die Bettler Schendis zu einer wirksamen Organisation zusammengeführt hatte, der die Mitgliederzahl regulierte und die Territorien gegeneinander abgrenzte. Heute konnte niemand ohne seine Erlaubnis in Schendi betteln, und niemand durfte in das Gebiet eines anderen eindringen. Jeder zahlte wöchentlich seine Steuer an Kipofu, den unvermeidlichen Preis für eine ordentliche Regierung. Diese Steuern, von denen zweifellos viel in Kipofus Taschen wanderte (denn jeder Monarch läßt sich für die Lasten seines Amtes bezahlen), dienten aber auch dazu, den Regierten Vorteile und Absicherung zu verschaffen. Kein Bettler in Schendi war ohne Unterkunft, niemand brauchte zu hungern. Im System kümmerte sich jeder um den anderen. Es hieß, daß gewisse Mitglieder des Kaufmannsrats Kipofu gelegentlich ins Vertrauen zogen. Eine Folge eines solcherart geregelten Bettlertums bestand in der Tatsache, daß es in Schendi gar nicht viele Bettler gab. Je weniger einer Stadt auf der Tasche lagen, desto mehr gab es für jeden zu finden – soviel war klar. Unerwünschten Bettlern blieb die Wahl, sich die Fahrt in eine andere Stadt bezahlen zu lassen oder ihre schlichte Laufbahn im Hafenbecken zu beenden.
»Ich brauche Informationen über einen Mann, der wie ein Bettler aussah«, sagte ich. »Er nannte sich Kungumi.«
»Bezahle!« forderte Kipofu.
Ich legte ihm einen weiteren Tarsk in die Hand.
»Mehr!« sagte Kipofu.
Ich kam der Aufforderung nach.
»Es gibt in Schendi keinen Bettler, der sich Kungumi nennt«, antwortete er.
»Gestatte mir, dir den Mann zu beschreiben«, sagte ich. »Was soll ich damit anfangen?« fragte er.
Ich zog einen Silber-Tarsk aus der Tasche.
Kipofu war durch seine Organisation bestimmt der bestinformierte Mann in der Stadt. Er hockte wie eine schlaue Spinne im Netz, Mittelpunkt eines Informationsgewebes, um das ihn mancher Ubar beneidet hätte. Es gab nur wenige Umwälzungen in Schendi, die nicht früher oder später Kipofu gemeldet wurden.
»Dies ist ein Silber-Tarsk«, sagte ich und drückte ihm die Münze in die Hand.
»Ah«, sagte er, wog das Geldstück in der Hand und prüfte seine Dicke. Mit dem Finger fuhr er am Rand entlang, um sich zu vergewissern, daß es nicht geglättet worden war. Er klopfte damit auf seinen Sitzstein. Und obwohl es sich nicht um Gold handelte, steckte er die Münze in den Mund, berührte sie mit der Zunge und biß sogar darauf, um die Festigkeit des Metalls zu prüfen.
»Dieses Geld kommt aus Port Kar«, sagte er dann. Auf beiden Seiten war er mit dem Daumen über die Münze gefahren und hatte natürlich die Initialen erspürt.
»Dieser Mann«, fuhr ich fort, »ist klein und hat einen Buckel. Seine linke Wange ist von einer Narbe entstellt. Er zieht das rechte Bein nach.«
Kipofu wurde plötzlich bleich und erstarrte. Er hob den Kopf und schien ins Leere zu lauschen.
Ich sah mich um. Niemand befand sich in unserer Nähe.
»Es ist niemand hier«, sagte ich. Ich zweifelte nicht daran, daß Kipofu, der angeblich vorzügliche Sinnesgaben besaß, im Umkreis von zwanzig Fuß einen Menschen atmen zu hören vermochte, obwohl wir uns hier auf dem belebten Platz befanden. Ich begann mir Gedanken über den Mann zu machen, dessen bloße Erwähnung bei Kipofu eine solche Reaktion hervorrief.
»Sein Rücken ist bucklig und dann auch wieder nicht«, sagte Kipofu. »Sein Rücken ist gekrümmt und nicht. Sein Gesicht ist vernarbt und auch wieder nicht. Sein Bein ist verkrüppelt und wieder nicht.«
»Weißt du, wer der Mann ist?« fragte ich ihn.
»Forsch nicht nach ihm!« sagte Kipofu. »Vergiß ihn! Flieh!«
»Wer ist er?« fragte ich.
Kipofu hielt mir die Münze wieder hin. »Nimm deinen Tarsk!« sagte er.
»Ich möchte es wissen«, sagte ich entschlossen.
Plötzlich hob Kipofu die Hand. »Hör doch!« sagte er. »Hör genau hin!«
Ich lauschte.
»Es ist jemand hier«, sagte er.
Ich blickte mich um. »Nein«, sagte ich, »es ist niemand hier.«
»Dort!« sagte Kipofu und hob die Hand. »Dort!«
Aber an der Stelle, auf die er deutete, sah ich nichts. »Dort ist nichts zu sehen«, sagte ich.
Ich dachte mir, daß er vielleicht den Verstand verloren hätte. Aber ich schritt in die Richtung, die er mir angezeigt hatte. Nichts lief mir über den Weg. Plötzlich ging mir auf, was er gemeint haben könnte, und meine Nackenhaare sträubten sich.
»Es ist fort«, sagte Kipofu.
Ich kehrte zum Stein des Ubars der Bettler zurück. Er war sichtlich mitgenommen.
»Geh fort!« sagte er.
»Ich muß wissen, wer der Mann ist«, erwiderte ich.
»Geh!« verlangte Kipofu. »Nimm deinen Tarsk zurück!« Er hielt mir die Münze hin.
»Was weißt du über den Goldenen Kailiauk?« Ich ließ nicht locker.
»Eine Paga-Taverne«, sagte er.
»Was weißt du über ein weißhäutiges Sklavenmädchen, das dort arbeitet?« fragte ich.
»Pembe, dem das Lokal gehört, hat seit Monaten kein weißes Mädchen mehr beschäftigt.«
»Ah!« sagte ich.
»Nimm deinen Tarsk zurück!« forderte Kipofu.
»Behalt ihn!« sagte ich. »Du hast mir vieles erzählt, was ich wissen wollte.«
Dann machte ich kehrt und ließ Kipofu, den ungewöhnlichen Ubar der Bettler Schendis, allein zurück.
11
Das Mädchen stand vor der dicken Holztür in der dunklen Straße und klopfte energisch viermal, gefolgt von einer Pause, ehe sie noch zweimal anschlug. Neben der Tür brannte eine winzige Tharlarionöllampe. Ich vermochte ihr dunkles Haar und die hohen Wangenknochen auszumachen. Das flackernde gelbe Licht spiegelte sich auf dem Stahlkragen unter ihrem Haar. Sie trug eine ärmellose braune Sklaventunika, die für ein Tavernenmädchen ziemlich zurückhaltend war.