»Er vermag Reichtum und Macht zu bringen«, sagte ich.
»Solche Dinge interessieren mich nicht«, sagte Shaba. Die dunklen Stammestätowierungen auf seinem Gesicht verzogen sich zu einem Lächeln. »Aber das wirst du sicher nicht glauben«, fuhr er fort.
»Tue ich auch nicht«, sagte ich.
»Wie schwierig ist es doch für zwei Menschen, die nicht derselben Kaste angehören, einander zu verstehen«, sagte er.
»Möglich«, sagte ich.
»Ich habe den Ring aus zwei Gründen behalten«, sagte er. »Erstens ermöglichte er mir die Befahrung des Ua-Flusses. Ohne den Ring wären wir nicht so weit gekommen. In vielen Dörfern und bei feindlich gesinnten Elementen ermöglichte uns die Demonstration der Eigenschaften des Ringes die Weiterfahrt – wie ich erhofft hatte. Am Fluß gelte ich wohl leider als eine Art Zauberer. Ohne den Ring wären ich und meine Männer umgebracht worden.« Er lächelte mich an. »Meine Erforschung des Ua wäre ohne den Ring nicht möglich gewesen.«
»Du weißt doch aber sicher, daß es gefährlich ist, den Ring zu besitzen«, sagte ich.
»Dessen bin ich mir bewußt«, erwiderte er und machte mit der rechten Hand eine ausholende Bewegung. Er deutete auf die festungsähnliche Umfriedung, in der er und seine Männer Zuflucht gesucht hatten. Die Anlage war von einem breiten, flachen Schutzgraben umgeben, der aus dem See gespeist wurde. Mit einem Tarskschinken hatte man uns demonstriert, daß in dem Graben Tausende von blauen Grunt ihrer Laichzeit entgegengingen. Dieser Fisch ist normalerweise nicht sonderlich gefährlich. Doch vor dem Vollmond, wenn die Fische zu Schwärmen zusammenkommen, wird er äußerst aggressiv. Der Tarskschinken war in wenigen Ihn aufgefressen worden. Rings um das Fleisch hatte das Wasser gebrodelt, und schon konnte man das Seil, an dem der Köder gehangen hatte, abgebissen aus dem Wasser ziehen. Der Graben war mit Hilfe einer kleinen Holzbrücke überquert worden, die von Shabas Männern errichtet worden war. Der Graben würde an Wirksamkeit verlieren, sobald der Mond seine volle Phase erreicht hatte. Sobald sich der Fortpflanzungszyklus des Grunt mit dem Vollmond abgeschlossen hatte, kehrten die Fische in den See zurück. Sicher war dieser Graben ein überlieferter Laichgrund für sie, denn die Gruntschwärme pflegten an angestammte Orte zurückzukehren, wo immer sie sich befinden mochten. So bildeten die Grunt im Burggraben für eine gewisse Zeit eine wirksame Barriere – Shaba und seinen Männern mußte aber klar sein, daß das nicht lange anhalten konnte. Plötzlich sträubten sich mir die Nackenhaare. Ich hatte etwas von der Situation dieser Männer begriffen.
»Ihr habt auf uns gewartet«, stellte ich fest.
»Natürlich«, antwortete Shaba. »Und wärt ihr nicht heute gekommen, weiß ich nicht, was wir getan hätten.«
»Die Gefräßigkeit der Grunt schützt euch seit drei bis vier Tagen.«
»Sie erwies sich als ausreichend«, sagte Shaba. »Sie gab euch Zeit, diesen Ort zu erreichen.«
»Kurii haben dich verfolgt«, sagte ich.
»Ja«, bestätigte Shaba meine Vermutung. »Das nehmen wir jedenfalls an, denn bisher haben wir nur Spuren gesehen. Doch muß ich befürchten, daß sie sich in diesem Augenblick bereits sammeln. Sie müssen sich irgendwo in der Stadt aufhalten.«
»Es war sehr mutig von deinem Manne, uns zu holen«, sagte ich.
»Er heißt Ngumi«, sagte Shaba. »In der Tat, er ist ein mutiger Mann. Wir wußten nicht, ob er durchkommen würde.«
»Ich wußte nicht, daß ein Schriftgelehrter so mutig sein kann«, äußerte ich.
»Mutige Männer gibt es in allen Kasten«, sagte Shaba.
»Es muß uns jedoch gestattet worden sein, zu dir zu kommen«, meinte ich.
»Ist Msaliti ebenfalls in der Festung?« fragte Shaba.
»Natürlich«, sagte ich.
»Dann magst du recht haben«, sagte er.
»Du sagtest eben, du hättest den Ring aus zwei Gründen behalten – aber bisher hast du erst einen genannt, nämlich daß er deine Forschungen am Ua erleichtert.«
»Schau dort«, sagte Shaba und deutete auf einen seitlich stehenden Tisch, auf dem sich ein zylindrisches Lederbehältnis und vier ledergebundene Notizbücher befanden.
»Ich verstehe«, sagte ich.
»Das ist ein Kartenbehältnis«, sagte er, »und die Schriftstücke enthalten meine Notizen. Im Verlauf meiner Reise habe ich den Ua vermessen und seinen Lauf verzeichnet und im übrigen meine Beobachtungen festgehalten. Diese Dinge sind von unschätzbarem Wert, auch wenn du dir das als Krieger vielleicht nicht vorstellen kannst.«
»Deine Unterlagen wären für einen Geographen sicher wertvoll«, sagte ich.
»Sie sind für alle zivilisierten Menschen von unschätzbarem Wert.«
»Mag sein«, sagte ich.
»Die Landkarten und meine Aufzeichnungen erschließen eine gänzlich neue Welt«, sagte Shaba. »Das darfst du nicht nur in bezug auf den Profit sehen, den Jäger und Fallensteller, Kaufleute oder Siedler, Pflanzer und Ärzte hier machen könnten – sondern in bezug auf alle Menschen, die gern etwas lernen, die gern Bescheid wissen, die verborgene Geheimnisse offenbart sehen und bisher unergründeten Rätseln auf die Spur gehen wollen. In diesen Karten und Aufzeichnungen liegt für alle, die damit etwas anzufangen wissen, der Schlüssel zu neuen und endlosen Ländern, zu Schätzen und Wundern.« Er richtete seinen intensiven Blick auf mich. »Und das ist der zweite Grund, warum ich den Ring mitnahm.«
»Ich verstehe nicht, was du damit meinst«, sagte ich.
»Ich habe nicht damit gerechnet, daß ich diese Expedition überleben würde, so daß ich in die anderen Länder zurückkehren könnte«, sagte er. »Es freut mich, daß ich es bis hierher geschafft habe, daß ich die Quelle des Uas finden durfte.«
»Ja?«
»Ich nahm den Ring nicht nur an mich«, erklärte er, »um mir damit die Reise zu erleichtern, sondern um zu erreichen, daß du oder ein anderer mir folgte – und daß es somit jemanden gab, der meine Landkarten und Aufzeichnungen in die Zivilisation zurückbringen konnte.«
»Du bist geflohen«, sagte ich, »aus Angst vor mir.«
Shaba lächelte. »Der Ua will mir als seltsamer Fluchtweg erscheinen. Nein, mein Freund, ich bin nicht geflohen. Vielmehr begann ich meine Forschungsreise in das Landesinnere.«
»Was ist mit den gewaltigen Geldsummen, die den Kurii abgeluchst wurden, jenen Kreditbriefen, die in Schendi ausgezahlt wurden?«
»Die dienten dazu, die Kosten der Ausstattung der Expedition zu mindern«, antwortete er. »Du hast doch sicher nichts dagegen, daß ich Mittel der Kurii für diesen Zweck ausgegeben habe. Sie sollten froh sein, zu einem so guten Projekt beigetragen zu haben.«
»Du verteilst deine Verrätereien immerhin gerecht«, sagte ich. »Das spricht zweifellos für dich.«
»Du darfst nicht zu schlecht von mir denken, Tarl«, sagte Shaba. »Für mich war das eine Gelegenheit, wie sie sich im Leben nicht ein zweitesmal bietet. Wenn ich etwas falsch gemacht habe, dann im Bestreben, für meine Kaste etwas zu erreichen und, noch allgemeiner gesprochen, für die ganze Menschheit.« Er warf mir einen bedrückten Blick zu. »Was würden die Priesterkönige deiner Meinung nach mit dem Ring anstellen?« fragte er. »Ihnen wäre er nicht wichtig. Für mich, für die Menschen, hat er aber eine ungeheure Bedeutung. Ich bezweifle sogar, ob die Priesterkönige dem Menschen die Benutzung des Rings gestatten würden. Es erscheint mir denkbar, daß sie darin einen Bruch ihrer Vorstellungen zur menschlichen Technologie sehen würden.«
»Vielleicht hast du recht«, erwiderte ich. »Ich weiß ehrlich nicht, wie sie die Sache sehen würden.«
»Also nahm ich den Ring«, fuhr Shaba fort. »Mit seiner Hilfe habe ich den Ua-Fluß erforscht, dessen Quelle ich fand. Mit Hilfe des Ringes habe ich dich außerdem hinter mir hergelockt, so daß nun meine Landkarten und Aufzeichnungen in die Zivilisation zurückgebracht werden können.«
Ich betrachtete den Kartenhalter und die Notizbücher.
»Ja«, sagte Shaba, »jene Dinge habe ich mit dem Diebstahl des Ringes und mit meinem Leben erreicht.« Plötzlich spannten sich seine Muskeln. Er schien Schmerzen zu leiden. »Bewache sie gut, mein Freund!«