Ich schritt bis zum Ende der Pier, etwa hundert Meter entfernt, wo die Schendi-Palme vertäut war. Hafenarbeiter, die schwere Ballen auf den Schultern trugen, gingen in langen Reihen an Bord und verschwanden unter Deck. Das Kommando führte der Zweite Offizier des Schiffes. Das erste graue Licht füllte den Himmel. Noch war der goldene Rand Tor-tu-Gors nicht auszumachen, des Lichts auf dem Heimstein, das sich im Osten der Stadt erhob.
»Fahrt ihr nach Schendi?« fragte ich den Offizier.
»Ja«, gab er zurück und hob den Blick von seiner Ladeliste.
»Ich würde gern bei euch eine Passage buchen«, sagte ich.
»Wir nehmen keine Passagiere mit«, sagte er.
»Ich könnte bis zu einem Silber-Tarsk zahlen«, sagte ich. Daß ich mir mehr leisten konnte, wollte ich lieber nicht verlauten lassen. Wenn es gar nicht anders ging, konnte ich mit irgendeinem anderen Schiff fahren. Ein eigenes Schiff zu mieten, war nicht ratsam – das hätte bestimmt Verdacht erweckt. Es wäre auch nicht klug gewesen, eines meiner eigenen Schiffe, beispielsweise die Dorna oder die Tesephone, in den Süden zu holen. Man mochte sie identifizieren. Goreanische Seeleute erkennen Schiffe ebensoleicht wie Gesichter. Das gilt natürlich für Seeleute aller Länder und aller Welten.
»Wir nehmen keine Passagiere mit«, wiederholte der Zweite Offizier.
Achselzuckend wandte ich mich ab. Natürlich hätte ich es vorgezogen, mit diesem Schiff zu fahren, denn dort würde sich auch das Mädchen befinden, sollte man sie wieder einfangen. Ich durfte nicht riskieren, ihre Spur zu verlieren.
Ich blickte zum hohen Deck der Schendi-Palme empor. Dort entdeckte ich Kapitän Ulafi im Gespräch mit einem Mann, den ich für den Ersten Offizier hielt. Die beiden beachteten mich nicht.
Ich verweilte einige Sekunden lang und betrachtete die anmutig geschwungene Wandung der Schendi-Palme. Sie war ein mittelgroßes Schiff, dessen Verhältnis von Länge zu Breite etwa sechs zu eins betrug, während Langschiffe etwa im Verhältnis acht zu eins gebaut werden. Das Schiff wies an jeder Seite zehn Ruder auf, besaß zwei Steuerruder und zwei Festmasten mit Lateinersegeln. Die meisten goreanischen Schiffe wurden mit Doppelrudern gesteuert. An Bord von Rundschiffen sind die Masten gewöhnlich fest angebracht, während sich der eine Mast eines Langschiffes vor dem Kampf entfernen läßt. Die meisten goreanischen Schiffe besitzen Lateinersegel; damit lassen sie sich dichter vor den Wind steuern. Außerdem bietet das lange dreieckige Segel ein sehr ansprechendes Bild.
Ich wandte dem Schiff den Rücken. Ich wollte nicht dabei auffallen, daß ich es mir zu gründlich anschaute. Nach den Gezeitentabellen würde die Flut sechs Ehn nach der siebten Ahn ihren Höhepunkt erreichen.
Ich stellte mir die Frage, ob Ulafi auch ohne die blonde Barbarin ablegen würde. Ich nahm es nicht an. Ich hoffte, daß er den Silber-Tarsk für sie nicht nur deswegen bezahlt hatte, weil sie ihm irgendwie gefiel. Das wäre sehr ärgerlich. Ich war überzeugt, er würde warten, bis man sie wieder eingefangen hatte. Wenn er dadurch jedoch die Flut verpaßte, würde ihn das bestimmt nicht freuen.
Am Pult des Pier-Praetors schien sich etwas ereignet zu haben, und ich kehrte dorthin zurück.
»Sie ist es!« sagte der überfallene Mann und deutete auf das kleine dunkelhaarige Mädchen. Sie stand gefesselt vor dem hohen Tisch des Praetors. Neben ihr, ebenfalls gesichert, stand ihr Komplize. Beide waren durch eine Halsschlinge miteinander verbunden. Interessanterweise trug das Mädchen keine Tunika mehr; ich hatte ihr das Kleidungsstück lediglich über die Hüfte hochgeschoben. Es erschien mir nicht wahrscheinlich, daß der Wächter sie entblößt hatte, da ich sie nach wie vor für eine freie Frau hielt. Jetzt aber war sie nackt.
»Die beiden waren wie Vulos aneinandergebunden«, sagte ein Wächter lachend.
»Wer mag das nur gewesen sein?« fragte jemand.
»Wächter waren es nicht«, sagte einer der Uniformierten. »Wir hätten die beiden sofort abgeliefert.«
»Sieht so aus, als hätten sich die beiden das falsche Opfer ausgesucht«, meinte jemand.
»Sie ist es!« wiederholte der Mann mit dem blutigen Ohr. »Sie hat mich abgelenkt, während der andere, so vermute ich, mich niederschlug.« Er deutete auf den Mann.
Das Mädchen schüttelte den Kopf. Anscheinend wollte sie etwas sagen.
»Was hast du da im Mund, Mädchen?« fragte der Praetor.
Einer der Wächter öffnete ihr unsanft die Lippen und holte die große Münze heraus. Zehn solcher Münzen ergeben einen Kupfer-Tarsk. Hundert Kupfer-Tarsk sind ein Silber-Tarsk.
Der Praetor legte die Münze auf seinen hohen Tisch, der zudem noch durch eine Sichtkante vor dem Antragsteller abgeschirmt wurde.
»Gib mir meine Münze zurück!« forderte das Mädchen. »Still!« sagte der Wächter.
»Sie hat dich also mit dem Mann zusammen überfallen?« fragte der Praetor und deutete auf das gefesselte Mädchen.
»Ja«, antwortete der Mann.
»Nein!« rief das Mädchen. »Ich habe ihn nie zuvor gesehen!«
»Ich verstehe«, sagte der Praetor, der das Mädchen zu kennen schien.
»Ha!« rief der Mann, der sie beschuldigte.
»Wie kommt es, daß du hilflos gefesselt am Kanal lagst?« fragte der Praetor.
Das Mädchen blickte sich nervös um. »Räuber haben uns überfallen und gefesselt«, sagte sie.
Gelächter wurde laut.
»Ihr müßt mir glauben! Ich bin eine freie Frau!«
»Untersucht den Beutel des Mannes«, ordnete der Praetor an.
Einer der Wächter öffnete den Beutel und fuhr mit den Fingern durch die Münzen, die sich darin befanden.
Verblüfft starrte das Mädchen auf den Beutel. Anscheinend hatte sie nicht gewußt, daß er soviel Geld enthielt. Zornig wanden sich ihre kleinen Hände in den Fesseln.
»Es sieht so aus«, sagte der Praetor lächelnd, »als hätte der Mann, der euch überfiel, euer Geld gar nicht mitgenommen.«
Der Gefesselte schwieg. Mürrisch blickte er zu Boden.
»Außerdem hinterließ er dir einen kleinen Tarsk«, wandte sich der Praetor an das Mädchen.
»Mehr habe ich nicht gespart«, sagte sie leise.
Wieder lachten die Umstehenden.
»Beraubt worden bin ich nicht«, sagte der Gefesselte. »Doch unerklärlicherweise schlug man mich von hinten nieder. Dann fesselte man mich an dieses kleine Urt-Mädchen. Anscheinend ist sie auf den Piers als Gaunerin bekannt. Feinde wollten mich offensichtlich mit ihrer Schuld in Verbindung bringen. Ich habe aber nichts mit ihr zu tun.«
»Turgus!« rief sie.
»Ich habe sie in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen«, fuhr er fort.
»Turgus!« rief sie. »Nein, Turgus!«
»Hast du gesehen, wie ich dich niederschlug?« wandte sich der Mann, der den Namen Turgus zu tragen schien, an den Überfallenen.
»Nein«, antwortete dieser. »Nein, das habe ich nicht gesehen.«
»Ich war es nicht«, sagte der Gefesselte daraufhin. »Bindet mich los, denn ich bin unschuldig. Es liegt auf der Hand, daß ich das Opfer einer Verschwörung geworden bin.«
»Er hat mir gesagt, was ich tun soll!« rief das Mädchen. »Er hat mir alles aufgetragen!«
»Wer bist du schon, du kleine Herumtreiberin?« fragte der Gefesselte. »Es liegt doch auf der Hand«, wandte er sich an den Praetor, »daß dieses Urt-Mädchen mich in ihre Machenschaften verstricken will, um selbst besser davonzukommen.«
»Ich versichere dir«, sagte der Praetor lächelnd, »daß sie keine Rücksicht erfahren soll.«
»Vielen Dank, Offizier!« sagte der Mann.
Das Mädchen stieß einen Wutschrei aus und versuchte nach dem Mann zu treten. Ein Wächter hielt sie fest.
»Wie heißt du?« fragte der Praetor.
»Sasi«, antwortete sie.
»Lady Sasi?« fragte er.
»Ja«, gab sie zurück. »Ich bin frei!«
Die Männer lachten. Aufgebracht blickte sie sich um. Ich nahm nicht an, daß sie sich um ihre Freiheit noch groß Gedanken machen mußte.
»Normalerweise trägt eine freie Frau mehr als Fesseln«, sagte der Praetor lächelnd.