»Als ich gefesselt dalag, wurde mir mein Gewand gestohlen«, antwortete sie. »Jemand riß es mir ab.«
»Wer mag das gewesen sein?« fragte der Praetor. »Ein vorbeikommender Mann, der deinen Körper sehen wollte?«
»Ein Mädchen raubte mir die Tunika!« rief sie zornig. »Ein blondes Mädchen. Sie war nackt. Sie stahl mir mein Gewand, woraufhin ich nackt war! Wenn es dir um das Gesetz geht, solltest du sie suchen lassen! Ich bin bestohlen worden! Du solltest die kleine Diebin verfolgen und nicht mich hier festhalten. Ich bin eine ehrliche Bürgerin!«
Wieder lachten die Umstehenden.
»Würdest du mich jetzt freilassen, Offizier?« fragte der Gefesselte. »Hier hat es einen Irrtum gegeben.«
Der Praetor wandte sich an zwei Wächter. »Schaut euch in der Gegend um, wo diese beiden gefunden wurden«, sagte er. »Ich glaube, unsere vermißte Sklavin wird sich im Gewand dieses Urt-Mädchens wieder anfinden.«
Zwei Wächter machten sich sofort auf den Weg. Die Vermutung des Praetors erschien mir begründet. Andererseits würde sich das Mädchen nicht an dem Ort herumtreiben, an dem sie die elende kleine Tunika des Urt-Mädchens an sich gebracht hatte. Nun ja, vielleicht ließ sich ihre Spur aufnehmen.
»Ich verlange Gerechtigkeit!« rief das Mädchen.
»Die sollst du bekommen, Lady Sasi«, sagte der Praetor.
Sie erbleichte.
»Wenigstens muß sie für das Brandeisen nicht erst noch entkleidet werden«, sagte ein Mann grinsend neben mir.
»Ist dies das Mädchen, das dich in ein Gespräch verwickelte, ehe du überfallen wurdest?« wandte sich der Praetor an den Betroffenen.
»Ja.«
»Ich wollte ihn nur um einen Tarsk anbetteln«, sagte sie. »Ich wußte nicht, daß der da dich niederschlagen wollte.«
»Warum hast du ihn nicht auf die Annäherung des Mannes aufmerksam gemacht?« fragte der Praetor.
»Ich habe nicht gesehen, wie der Mann näherkam.«
»Aber eben hast du doch gesagt, du wußtest nicht, daß er den Mann niederschlagen würde. Also mußt du ihn doch gesehen haben.«
»Laß mich bitte frei!« flehte sie.
»Niemand hat gesehen, wie ich den Mann niederschlug«, sagte der Mann, den das Mädchen als Turgus identifiziert hatte. »Ich bin unschuldig. Gegen mich gibt es keinen Beweis. Mit der kleinen Schlampe könnt ihr tun, was ihr wollt. Ich aber muß freigelassen werden.«
Das Mädchen senkte den Kopf. »Laß mich bitte frei!« sagte sie.
»Mir wurde ein Gold-Tarn gestohlen«, sagte der Überfallene.
»So eine Münze befindet sich hier im Beutel«, stellte ein Wächter fest.
»Auf meiner Goldmünze hatte ich meine Initialen eingekratzt – Ba-Ta Shu, Bem Shandar – und auf die andere Seite die Trommel des Tabor geritzt.«
Der Wächter hielt dem Praetor die Münze hin. »Stimmt!« sagte dieser.
Plötzlich bäumte sich der Gefangene in seinen Fesseln auf. Zwei Wächter mußten ihn festhalten. »Er ist kräftig!« sagte einer.
»Die Münze wurde mir in den Beutel geschmuggelt«, behauptete der Mann. »Man will mich hereinlegen.«
»Du bist eine Urt, Turgus!« rief das Mädchen.
»Nein, du bist hier das Urt-Mädchen!« fauchte er zurück.
»Man hat euch zusammen erwischt«, sagte der Praetor und begann einige Papiere auszufüllen. »Wir suchen schon lange nach euch.«
»Ich bin unschuldig«, sagte der Mann.
»Wie nennst du dich selbst?« fragte der Praetor.
»Turgus.«
Der Beamte trug den Namen in die Unterlagen ein und unterzeichnete sie.
Dann blickte er auf Turgus hinab. »Wie kommt es, daß du gefesselt warst?« erkundigte er sich.
»Mehrere Männer fielen über mich her«, antwortete der andere. »Ich wurde von hinten niedergeschlagen.«
»Dein Gesicht sieht mir aber nicht danach aus.«
Turgus’ Züge boten keinen hübschen Anblick. Ich hatte seinen Kopf seitlich gegen das Pflaster geschmettert.
»Turgus aus Port Kar«, sagte der Praetor, »in Anbetracht der hier ermittelten Tatsachen und des auf dich ausgesetzten Steckbriefs ergeht hiermit gegen dich das Urteil der Verbannung. Wirst du nach Sonnenuntergang noch in der Stadt angetroffen, fällst du der Aufspießung anheim. Bindet ihn los!«
Die Wächter kamen der Aufforderung nach.
Turgus ließ sich keine Gefühlsregung anmerken. Er drehte sich um und schritt durch die Menge. Dabei fiel sein Blick auf mich.
Er erbleichte, machte kehrt und floh.
Ich bemerkte den interessierten Blick eines in der Nähe stehenden dunkelhäutigen Seemannes – es war der Mann, der mich vor einiger Zeit auf meinem Weg in den Hafen überholt hatte.
Das Mädchen blickte zu dem Praetor empor.
»Die Lady Sasi«, sagte dieser, »wird in Anbetracht der hier ermittelten Tatsachen und des auf sie ausgestellten Steckbriefes zur Sklaverei verurteilt.«
»Nein, nein!« kreischte sie.
»Das Mädchen soll zur nächsten Schmiede gebracht und gebrandmarkt werden. Anschließend ist sie vor der Werkstatt fünf Ehn lang auszustellen und dem erstbesten Interessenten für die Kosten der Brandung zu veräußern. Wird sie in dieser Zeit nicht verkauft, kommt sie auf den öffentlichen Markt.«
Das Mädchen musterte den Praetor stumm.
»Diese Tarsk-Münze«, fuhr der Beamte fort und deutete auf das Geldstück, das man ihr abgenommen hatte, »geht in den Besitz der Hafenbehörden über.«
Ich bemerkte, daß Ulafi, der Kapitän der Schendi-Palme, mit seinem Ersten Offizier in der Menge stand. Ich schob mich neben die beiden.
»Ich würde gern an Bord der Schendi-Palme mitfahren«, sagte ich leise.
»Du bist kein Metallarbeiter«, bemerkte Ulafi zu mir.
Ich zuckte die Achseln. »Ich möchte eine Passage buchen«, wiederholte ich.
»Wir nehmen keine Passagiere mit«, sagte er. Er und der Erste Offizier wandten sich daraufhin ab. Ich blickte den beiden nach.
Der Praetor unterhielt sich nun mit Bem Shandar aus Tabor. Papiere wurden ausgefüllt, mit deren Hilfe der Mann sein gestohlenes Gut zurückerhalten würde.
»Kapitän!« rief ich.
Ulafi drehte sich um. Die Menschenmenge lief bereits auseinander.
»Ich könnte für die Passage einen Silber-Tarsk zahlen«, sagte ich.
»Es scheint dir sehr daran zu liegen, aus Port Kar wegzukommen«, sagte er.
»Mag sein«, gab ich zurück.
»Wir befördern keine Passagiere«, informierte er mich und wandte sich ab. Sein Erster Offizier folgte ihm.
Ich näherte mich einem Wächter nahe der Praetor-Station. »Welche Anstrengungen werden unternommen, die geflohene Sklavin wiederzufinden?« fragte ich.
»Gehörst du zur Schendi-Palme?« fragte er.
»Ich hoffe, an Bord dieses Schiffes eine Passage zu finden«, erwiderte ich. »Ich fürchte, der Kapitän wird die Abreise so lange hinauszögern, bis das Mädchen gefunden ist.«
»Wir suchen nach ihr«, sagte der Wächter.
»Vielleicht trägt sie das Gewand eines Urt-Mädchens«, sagte ich.
»Das wissen wir, Bürger!«
»Ich«, sagte ein Wächter, der unser Gespräch belauscht hatte, »habe ein Mädchen, auf das die Beschreibung paßt, vor kurzem angehalten. Sie trug die Tunika eines Urt-Mädchens, doch als ich sie zwang, mir ihren Oberschenkel zu zeigen, war dort kein Brandmal zu sehen.«
»Wo hast du so ein Mädchen gefunden?« fragte ich.
»In der Nähe der Gewürz-Pier«, lautete die Antwort.
»Vielen Dank, Wächter!«
Instinktiv mochte das Mädchen das Richtige tun – sie würde sich möglichst gut zu verstecken suchen, ohne den Bereich des Hafens zu verlassen; der Rest der Stadt war sicher zu fremd für sie. Es gab verschiedene Möglichkeiten. Sie konnte sich zwischen Kisten und Ballen auf den Piers verbergen, sie mochte in Kisten, unter Planen oder in großen Taurollen Schutz suchen. Natürlich waren den Wächtern solche Möglichkeiten bekannt, die systematisch jeden Winkel absuchen würden.
Ich hatte mich zur Gewürz-Pier begeben.
Ich nahm nicht an, daß das Mädchen sich so wenig einfallsreich verstecken würde – sie würde dafür sorgen, daß man sie nicht gleich als Verdächtige ansehen mußte, denn zweifellos war sie hochintelligent. Schließlich hatte man sie zur Kur-Agentin gemacht.