Diesen noch so echt französisch gebliebenen Landstrich hätten die Franco-Canadier recht wohl noch Neu-Frankreich nennen können. Sitten und Gebräuche waren hier noch dieselben wie im 17. Jahrhundert. Ein englischer Schriftsteller, Russel, konnte mit Recht sagen: »Unter-Canada gleicht weit mehr einem Frankreich aus alter Zeit, über dem das Lilienbanner flatterte.« Ein französischer Autor, Eugene Reveillaud schrieb: »Hier ist die Zufluchtstätte der alten Herrschaft. Es ist eine Bretagne oder eine Vendee von vor sechzig Jahren, die sich jenseits des Oceans ausdehnt. Auf dem Festlande Amerikas hat der Bewohner hier mit besonders vorsichtiger Sorgfalt ebenso die geistigen Anschauungen und den naiven Glauben, wie den Aberglauben seiner Väter zu bewahren gewußt.« - Dieses Urtheil ist auch noch für die Jetztzeit zutreffend, wie es gleichfalls wahr ist, daß die französische Race sich in Canada sehr rein und ohne Vermischung mit fremdem Blute erhalten hat.
Bei seiner Heimkehr nach der Villa Montcalm, gegen 1829, befand sich Herr de Vaudreuil in Verhältnissen, welche ihm ein glückliches Leben gewährleisteten. Obwohl sein Vermögen nicht beträchtlich war, sicherte es ihm doch ein bequemes Auskommen, das er hätte in Ruhe genießen können, wenn ihn sein glühender Patriotismus nicht immer wieder in den Bannkreis der politischen Agitation gedrängt hätte. Wo diese Erzählung beginnt, zählte Herr de Vaudreuil siebenundvierzig Jahre. Sein grau melirtes Haar ließ ihn vielleicht etwas älter erscheinen; der lebhafte Blick, die glänzenden tiefblauen Augen, die mächtige Gestalt, die kräftige Constitution, die ihm eine unerschütterliche Gesundheit verbürgte, die ansprechende wohlwollende Physiognomie und das wohl etwas stolze, aber keineswegs hochmüthige Auftreten machten ihn zum unverkennbaren Typus eines französischen Edelmannes. Er war sozusagen der leibhaftige Nachkomme jener unternehmenden Adelsgeschlechter, welche im 15. Jahrhundert den Atlantischen Ocean überschritten, der Sohn jener Gründer der schönsten überseeischen Colonien welche die verächtliche Gleichgiltigkeit Ludwigs XV. auf die Ansprüche Großbritanniens hin abgetreten hatte.
Seit zehn Jahren schon war Herr de Vaudreuil Witwer; der Tod seiner Gattin, die er mit tiefer Zärtlichkeit liebte, ließ in seinem Leben eine stets schmerzlich empfundene Lücke zurück. Jetzt widmete er seine Sorgfalt ausschließlich seiner einzigen Tochter, in der die muthige edle Seele der Mutter wieder aufs neue auflebte.
Zu jener Zeit war Clary de Vaudreuil zwanzig Jahre alt. Ihre zierliche Gestalt, das dichte, fast schwarze Haar, die großen brennenden Augen, der trotz seiner Blässe noch warme Teint und das etwas ernsthafte Aussehen machten sie weniger schön als hübsch, mehr imponirend als anziehend, wie verschiedene Heroinen Fennimore Cooper's. Gewöhnlich bewahrte sie eine kühle Zurückhaltung, oder richtiger, ihr ganzes Sein und Wesen concentrirte sich nur in der einen Liebe, die sie bis jetzt gefühlt, in der Liebe zu ihrem Vaterlande.
In der That, Clary de Vaudreuil war eine echte Patriotin. Während der Bewegungen, die sich 1832 und 1834 abspielten, verfolgte sie die verschiedenen Phasen des Aufstandes mit gespannter Aufmerksamkeit. Die Führer der Opposition betrachteten sie auch als die entschlossenste der zahlreichen jungen Mädchen, die mit Leib und Seele der nationalen Sache ergeben waren, und als die politischen Freunde des Herrn de Vaudreuil sich in der Villa Montcalm zusammenfanden, nahm Clary an den Verhandlungen stets theil, und wenn sie sich mit dem Worte nur sehr bescheiden einmischte, so hörte sie und beobachtete sie doch Alles und widmete ihre Kräfte dem Schriftwechsel der Reformer-Comites. Alle französischen Canadier hatten zu ihr das festeste Vertrauen, weil sie solches verdiente, und bewahrten ihr die achtungsvollste Freundschaft, weil sie derselben würdig war.
In diesem leidenschaftlichen Herzen war indessen neben der Liebe zum Vaterlande noch eine andere Liebe aufgelodert -eine ideale und eigentlich gegenstandslose Liebe, denn sie kannte nicht einmal den, dem dieselbe galt.
Sowohl 1831 wie 1834 hatte eine geheimnißvolle Persönlichkeit eine hervorragende Rolle in den Aufstandsversuchen jener Zeit gespielt. Derselbe hatte seinen Kopf mit einer Kühnheit, einem Muthe und einer Entschlossenheit zu Markte getragen, welche auf empfindsame Naturen ihren Eindruck nicht verfehlen konnten. In der ganzen Provinz Canada nannte man seinen Namen mit heller Begeisterung - oder vielmehr eine ihm allein verbliebene Bezeichnung, denn man nannte ihn nicht anders als Johann ohne Namen. An den Tagen des Kampfes stand er gewiß im dichtesten Gewühle; nach Beendigung desselben war er spurlos verschwunden. Man empfand es jedoch, daß er auch im Dunklen weiter wirkte, daß seine Hand niemals ruhte, die Zukunft vorzubereiten. Vergebens hatten die Behörden sich bemüht, seinen Zufluchtsort auszuspähen; selbst das Haus Rip & Cie. holte sich bei den Nachsuchungen nach ihm nur beschämende Schlappen. Uebrigens wußte man nichts von der Herkunft dieses Mannes, so wenig wie von seinem dermaligen als auch von seinem früheren Leben. Nichtsdestoweniger ließ sich gar nicht verkennen, daß er auf die französisch-canadische Bevölkerung einen geradezu mächtigen Einfluß ausübte. So hatte sich um seine Person eine wirkliche Legende gewebt, und die Patrioten harrten immerfort darauf, ihn erscheinen und die Fahne der Unabhängigkeit entfalten zu sehen.
Die Thaten dieses namenlosen Helden hatten auf den Geist Clary de Vaudreuil's einen höchst lebhaften und tiefreichenden Eindruck gemacht. Ihre geheimsten Gedanken flüchteten immer und immer nur zu ihm. Sie verehrte ihn gleich einem überirdischen Wesen; sie lebte vollständig in dieser mystischen Gemeinschaft, und indem sie Johann ohne Namen mit der edelsten Liebe anhing, schien es ihr, als ob sie damit ihr Vaterland nur noch mehr liebte. Diese Empfindung verschloß sie jedoch sorgfältig in ihrem Herzen. Wenn ihr Vater sie durch die Baumgänge des Parkes wandeln und ihren Gedanken nachhängen sah, so konnte er gar nicht auf den Gedanken kommen, daß sie von dem jungen Patrioten träumte, in dem sich in ihren Augen die canadische Revolution verkörperte.
Unter den politischen Freunden, welche sich am häufigsten in der Villa Montcalm versammelten, trafen sich zu friedlichem Meinungsaustausch auch einige derjenigen, deren Eltern oder Verwandte mit Herrn de Vaudreuil an dem so schlimm endenden Complot von 1825 theilgenommen hatten.
Aus diesem Freundeskreise haben wir vor Allem Andre Farran und William Clerc zu erwähnen, deren Brüder, Robert und Francis, am 26. September 1825 das Schaffot bestiegen hatten; ferner Vincent Hodge, den Sohn Walter Hodge's, jenes amerikanischen Patrioten, der für die Sache Canadas gestorben war, als Simon Morgaz an ihm und seinen Genossen jenen schändlichen Verrath begangen hatte. Außer diesen stellte sich auch ein Advokat aus Quebec - derselbe, in dessen Haus sich Johann ohne Namen hatte aufhalten sollen, welche falsche Nachricht dem Agenten Rip zugegangen war - zuweilen bei Herrn de Vaudreuil ein.
Der heftigste Widersacher der Unterdrücker war ohne Zweifel Vincent Hodge, damals zweiunddreißig Jahre alt. Von Vaters Seite her amerikanischen Blutes, hatte er von seiner Mutter, die nach dem Tode ihres Gatten bald aus Kummer starb, auch französisches Blut in den Adern. Vincent Hodge hatte nicht lange in der Nähe Clary Vaudreuil's sein können, ohne sie erst bewundern, dann aber lieben zu lernen, was Herrn Vaudreuil gar nicht zu mißfallen schien. Vincent Hodge war ein vornehmer junger Mann, der überall gern gesehen wurde wegen seines angenehmen Wesens, wenn dieses auch zuweilen von den etwas derben Zügen des Yankees von der Grenze durchbrochen wurde. Soweit die Ausdauer der Empfindung, die Ehrlichkeit seiner Neigung und sein persönlicher Muth in Frage kamen, hätte Clary de Vaudreuil gar keinen ihrer mehr würdigen Gatten erwählen können. Das junge Mädchen hatte jedoch gar nicht bemerkt, daß sie das Ziel seines Strebens sei. Zwischen Vincent Hodge und ihr konnte es nur ein Band geben - das der Vaterlandsliebe. Sie schätzte wohl seine Eigenschaften - lieben konnte sie ihn nicht. Ihre Gedanken und Wünsche gehörten ja einem Andern, jenem Unbekannten, auf den sie wartete und der schon eines Tages vor ihr erscheinen werde.