»Es wird hiermit ein Preis ausgesetzt auf den Kopf des Johann ohne Namen, der in den Grafschaften des oberen St. Lorenzo sichtbar gewesen ist. Sechstausend Piaster werden Demjenigen zugesichert, der ihn verhaftet oder seine Verhaftung herbeiführt.
Im Namen des Lord Gosford der Polizeiminister Gilbert Argall.«
Hierauf setzte das Boot seine Fahrt fort und ließ sich von der Strömung des Flusses hinabtreiben.
Die Herren de Vaudreuil, Farran, Clerc, Vincent Hodge waren unbeweglich auf der Terrasse stehen geblieben, welche schon die tiefe Nacht umhüllte. Keine Bewegung entschlüpfte auch dem jungen Unbekannten, während die Stimme des Constablers jenen Inhalt der Bekanntmachung wiedergab. Nur das junge Mädchen hatte fast unbewußt sich ihm mit einigen Schritten genähert. Herr de Vaudreuil war es, der zuerst wieder das Wort nahm. »Wiederum ein Preis, der feilen Verräthern geboten wird! sagte er. Dieses Mal hoff ich, wird es nutzlos sein, dieses Mal wird sich der gute Ruf der canadischen Franzosen nicht wieder einen Schandfleck holen!
- Ja, es ist genug, es ist zuviel, daß man schon einmal einen Simon Morgaz gefunden hat! rief Vincent Hodge.
- Gott beschütze Johann ohne Namen!« flehte Clary mit tieferregter Stimme.
Jetzt trat einige Augenblicke Stillschweigen ein.
»Treten wir ein und begeben wir uns nach unseren Zimmern, sagte Herr de Vaudreuil. - Ich werde Ihnen ein solches zur Verfügung stellen, setzte er an den jungen Mann gewendet hinzu.
- Ich danke Ihnen, Herr de Baudreuil, antwortete der Unbekannte, doch es ist mir unmöglich, noch länger in diesem Hause zu bleiben.
- Und warum?.
- Als ich vor einer Stunde die mir von Ihnen gebotene Gastfreundschaft der Villa Montcalm annahm, befand ich mich nicht in der Lage, in welche mich jene öffentliche Bekanntmachung versetzt hat.
- Was wollen Sie damit sagen, mein Herr?
- Daß meine Anwesenheit Ihnen jetzt nur große Verlegenheiten bereiten könne, weil der General-Gouverneur einen Preis auf meinen Kopf gesetzt hat. Ich bin Johann ohne Namen!«
Nachdem der junge Mann sich verneigt, wendete er sich schon nach dem Steilufer zu, als Clary ihn noch an der Hand faßte.
»Bleiben Sie hier!« bat sie.
Sechstes Capitel
Der St. Lorenzo
Das Thal des St. Lorenzo ist vielleicht eines der ausgedehntesten, welches geologische Vorgänge jemals in die Oberfläche der Erdkugel eingegraben haben. Humboldt schreibt ihm eine Größe von zweihundertsiebzigtausend (franz.) Quadratmeilen zu - d. h. eine solche, welche der von ganz Europa gleichkommt.
Der in seinem Verlaufe sehr launenhafte, mit Inseln besäte, von Stromschnellen unterbrochene und von Wasserfällen quer durchschnittene Strom zieht sich durch das ganze Thal hin, welches im eigentlichen Sinne das französische Canada bildet. Dieses Gebiet, in dem sich zuerst die Söhne des auswandernden Adels niederließen, ist heutzutage in Grafschaften und Bezirke eingetheilt. An der Mündung des St. Lorenzo, in der breiten Bai jenseits seiner Verzweigung, erheben sich der Madelaine-Archipel, die Insel des Cap Breton und des Prinzen Eduard, die große Insel Anticosti, welche die dem Aussehen nach so verschiedenen Küsten von Labrador, Neufundland, Acadien oder Neu-Schottland gegen die furchtbaren Stürme des Atlantischen Weltmeers schützen.
Erst Mitte April erfolgt hier gewöhnlich der Abgang des Eises, das sich während der langen und strengen Winterperiode des canadischen Klimas angesammelt hatte. Dann wird der St. Lorenzo schiffbar. Selbst Schiffe von großem Tonnengehalt können hinauf gelangen bis in die Gegend der Seen, jener Süßwassermeere, deren Kette sich durch das sagenumwobene Land hinzieht, das man so bezeichnend »Das Land Coopers« genannt hat. Zu dieser Jahreszeit belebt sich der Strom, in dem Ebbe und Fluth weit eindringen, wie eine Rhede, deren Blokade durch einen Friedensschluß aufgehoben wurde. Segelboote, große und kleinere Dampfschiffe, Holzflöße, Lootsenboote, Küstenfahrer, Fischerbarken, Lustyachten und Canots jeder Art gleiten über die Oberfläche seiner Gewässer, die endlich von ihrer dicken Eisdecke befreit sind. Nach einem halben Jahr des Todesschlafes beginnt für ein halbes Jahr das Leben.
Am 13. September gegen sechs Uhr Morgens verließ ein als Kutter getakeltes Fahrzeug den kleinen Hafen von St. Anna an der Mündung des St. Lorenzo und an dem südlichen, nach dem Golfe zu sich abrundenden Ufer desselben. In diesem Fahrzeuge saßen fünf bis sechs Fischer, welche ihr einträgliches Gewerbe von den Stromschnellen bei Montreal bis zur Ausmündung des Flusses hin betrieben. Nachdem sie ihre Netze und Schnüre an den Stellen ausgeworfen, welche sie aus Erfahrung als ergiebig kennen, bringen sie die Salz- und Süßwasserfische von Ortschaft zu Ortschaft zum Verkauf -richtiger müßte es heißen, von Haus zu Haus, denn die beiderseitigen Ufer begrenzt eine fast ununterbrochene Reihe von Wohnstätten bis hinauf zur Westgrenze der Provinz.
Diese Fischer stammten aus Acadien. Ein Fremder würde das schon aus ihrer Sprachbildung und an dem in Neu-Schottland so rein gebliebenen Typus erkennen, da sich hier die französische Race ganz besonders gedeihlich entwickelt hat. Verfolgt man die Reihe ihrer Vorfahren, so wird man unter diesen fast sicherlich einige jener Proscribirten antreffen, welche vor einem Jahrhundert durch die königlichen Truppen decimirt wurden und deren Unglück Longfellow so schön in seinem ergreifenden Gedichte »Evangeline« geschildert hat.
Das Gewerbe eines Fischers ist vielleicht das angesehenste in Canada, mindestens in den Küstengemeinden, wo man zehn-bis fünfzehntausend Fischerboote zählt, und mehr als dreißigtausend Mann die Gewässer des Stromes und seiner Zuflüsse ausbeuten.
Der Kutter trug noch einen sechsten Passagier, der ebenso wie die übrigen Insassen gekleidet war, von einem Fischer aber weiter nichts als eben das Costüm hatte. Man hätte sich hierüber gewiß täuschen lassen, und es wäre sehr schwierig gewesen, in ihm den jungen Mann zu vermuthen, dem die Villa Montcalm achtundvierzig Stunden lang Unterkunft gewährt hatte.
Es war in der That Johann ohne Namen.
Während seines Verweilens in der Villa hatte er über das Incognito betreffs seiner Person und seiner Familie keinerlei Aufschluß gegeben. - Johann - das war der einzige Name, den Herr und Fräulein de Vaudreuil ihm gaben.
Nach Beendigung ihrer Verhandlung am 3. September hatten Vincent Hodge, William Clerc und Andre Farran sich wieder nach Montreal heimbegeben, und schon zwei Tage nach seinem Eintreffen in der Villa nahm Johann Abschied von Herrn de Vaudreuil und dessen Tochter.
Wie viele Stunden während dieses kurzen Aufenthaltes waren da verbracht worden im Gespräch über das neue Unternehmen, welches gewagt werden sollte, um Canada der englischen Herrschaft zu entreißen! Mit welch' hoher Genugthuung hörte Clary den jungen Verbannten die Sache preisen, die ihnen ja beiden so theuer war! Er selbst hatte inzwischen etwas von der Kälte abgestreift, die er zuerst zeigte, und welche mehr vorbedacht erschien. Vielleicht unterlag er schon dem Einflusse der empfindsamen Seele des jungen Mädchens, deren Liebe zum Vaterlande sich der seinigen so innig anschloß.
Am Abend des 5. September war es gewesen, als Johann Herrn und Fräulein de Vaudreuil verließ, um seine Irrfahrten wieder zu beginnen und den Feldzug reformatorischer Propaganda in den Grafschaften Unter-Canadas zu vollenden.
Vor der Trennung hatten alle Drei verabredet, sich im Pachthofe zu Chipogan bei Thomas Harcher wieder zu treffen, dessen Familie, wie sich zeigen wird, die Familie des jungen Patrioten geworden war. Und doch, wie unbestimmt blieb es, ob er und das junge Mädchen sich jemals wiedersehen würden, da seinen Kopf so viele Gefahren bedrohten.
Jedenfalls war Niemand auf die Vermuthung gekommen, daß es Johann ohne Namen war, dem die Villa Montcalm Zuflucht gewährt hatte. Der Chef des Hauses Rip & Cie. hatte, auf falsche Fährte geleitet, seinen dermaligen Aufenthalt nicht aufzuspüren vermocht. Johann hatte die Villa ebenso unbemerkt verlassen können, wie er dahin gekommen; dann überschritt er im Fährboote den St. Lorenzo am Ende der Insel Jesus und verlor sich in die Landschaft des Inneren nach der amerikanischen Grenze hin, um diese zu überschreiten, wenn es seiner Sicherheit wegen nothwendig erschien. Da man ihn -und mit Recht, denn Johann kam daher - inmitten der Kirchspiele des oberen Stromes suchte, hatte er, ohne erkannt oder verfolgt zu werden, den Fluß St. Jean erreichen können, dessen Lauf theilweise die Grenze von Neu-Braunschweig bildet. Dort, im kleinen Hafen von St. Anna, erwarteten ihn seine muthigen Gefährten, die sich demselben Werke widmeten und auf deren Ergebung er ohne jeden Rückhalt bauen konnte.