Achtes Capitel
Ein Jahrestag
Um fünf Uhr Nachmittag war es, als Johann den »Champlain« verließ. Drei Lieues trennten ihn da ungefähr von dem Flecken Chambly, nach dem er sich begeben wollte.
Was hatte er daselbst vor? War seine Propaganda, die er seit dem Eintreffen in der Villa Montcalm in den äußersten südwestlichen Grafschaften betrieb, noch nicht beendet gewesen? Ja, das wohl; doch gerade dieses Kirchspiel hatte seinen Besuch noch nicht erhalten. Warum das so gekommen, hätte Niemand errathen können, und er hatte es auch keinem Menschen gesagt, ja, vielleicht mochte er es sich kaum selbst gestehen. Er wanderte jetzt auf Chambly zu, als ob dieses gleichzeitig anziehend und abstoßend auf ihn wirkte, denn jedenfalls war er sich des Kampfes bewußt, der ihm hier bevorstand.
Zwölf Jahre waren vergangen, seit Johann den Flecken, in dem er geboren, verlassen hatte. Nie hatte man ihn daselbst wiedergesehen. Jetzt würde ihn Keiner mehr wieder erkennen. Er selbst besann sich ja nach so langer Abwesenheit kaum auf die Straße, auf der er als Kind gespielt, noch auf das Haus, in dem er seine ersten Jahre verbracht hatte.
Doch nein, die Erinnerungen aus seinem frühesten Alter konnten aus seinem lebhaften Gedächtnisse doch nicht so vollständig verwischt sein. Aus dem Uferwald herausgetreten, sah er sich plötzlich inmitten der Wiesen, durch die er sonst gelaufen, wenn er nach der Fähre im St. Lorenzo wollte. Es war kein Fremdling, der über diesen Boden schritt, sondern ein Kind des Landes. Er überlegte auch gar nicht, einzelne durchwatbare Stellen zu benutzen, Querpfade einzuschlagen und Winkel abzuschneiden, wodurch er seinen Weg abkürzte. Auch in Chambly selbst konnte er nicht zweifelhaft sein, den kleinen Platz wieder zu erkennen, wo sein Vaterhaus gestanden, wie die enge Straße, durch welche er meist in dasselbe gelangt, die Kirche, in die seine Mutter ihn damals führte, die Schule, in der er den ersten Unterricht empfangen, ehe er seine Studien in Montreal fortsetzte.
Johann wollte also jene Oertlichkeiten wieder sehen, von denen er sich schon so lange Zeit entfernt hatte. Im Augenblicke, wo er bald sein Leben für den letzten Kampf in die Schanze schlagen wollte, trieb ihn noch ein unwiderstehlicher Wunsch, dahin zurückzukehren, wo dieses für ihn elende Dasein seinen Anfang genommen hatte. Es war nicht Johann ohne Namen, der sich hier den Reformern der Grafschaft vorstellte, es war vielmehr das Kind, welches vielleicht zum letzten Male nach dem Dorfe seiner Geburt heimkehrte.
Johann ging raschen Schrittes dahin, um vor dem Dunkelwerden in Chambly zu sein und dieses vor Anbruch des Tages wieder verlassen zu können. In peinigende Erinnerungen versanken, sahen seine Augen nichts von dem, was früher seine Aufmerksamkeit erregt hätte. Nicht die Heerden Elennthiere, welche im Gehölz weilten, noch die Tausende von Vögeln, die zwischen den Bäumen umherflatterten, oder das Wild, das durch die Furchen dahinlief.
Einige Leute waren noch mit Feldarbeiten beschäftigt. Er wandte sich ab, um nicht ihren herzlichen Gruß erwidern zu müssen, da er unbemerkt durch die Felder zu gehen und nach Chambly zu kommen wünschte, ohne gesehen worden zu sein.
Es war sieben Uhr Abends, als der Kirchthurm des Orts über den Baumkronen sichtbar wurde. Noch eine halbe Lieue und er war zur Stelle. Das durch den Abendwind bis zu ihm getragene Läuten der Glocke veranlaßte ihn zu den Worten:
»Ja, ich bin es!. Ich, der noch einmal inmitten von dem Allen zu athmen wünschte, was er ehedem so sehr geliebt hatte!. Ich kehre zum Neste zurück! Ich wandre wieder zu meiner Wiege!.«
Er schwieg, oder gab sich vielmehr selbst Antwort, indem er mit bebender Stimme fragte:
»Was soll ich denn hier beginnen?«
Das unterbrochene Anschlagen der Glocke belehrte ihn inzwischen, daß es nicht der Angelus (Abendsegen) war, der in diesem Augenblicke ertönte, doch wußte er sich nicht zu deuten, zu welcher Andacht sie die Gläubigen von Chambly in so später Stunde riefe.
»Desto besser, sprach er für sich selbst, so werden die Leute in der Kirche sein und ich brauche nicht an offenen Thüren vorüberzugehen. Niemand wird mich sehen, Niemand anreden; und da ich nicht nöthig habe, irgendwen um Gastfreundschaft zu bitten, so wird kein Mensch wissen, daß ich gekommen bin.«
Während er sich das sagte und den Weg fortsetzte, wandelte ihn doch wiederholt das Verlangen an, lieber umzukehren. Doch nein, eine unwiderstehliche Kraft trieb ihn vorwärts.
Je mehr er sich nun Chambly näherte, desto vorsichtiger und aufmerksamer blickte Johann um sich. Trotz mancher, im Laufe von zwölf Jahren ja unausbleiblichen Veränderungen erkannte er doch die Häuser, die Umzäunungen und die am Außenrande des Fleckens gelegenen Pachthöfe wieder.
Nach Erreichung der Hauptstraße glitt er längs der Häuser hin, deren Aussehen so vollständig französisch war, daß er sich in die Mitte einer Landvogtei im 17. Jahrhundert hätte zurückversetzt glauben können. Hier wohnte ein Freund seiner Familie, bei dem Johann früher oft einige Tage seiner Ferien zugebracht, dort wieder der Pfarrer des Kirchspiels, der ihm die ersten Stunden ertheilt hatte. Ob diese guten Leute wohl noch lebten?. Weiter erhob sich ihm zur Rechten ein hohes Bauwerk. Das war die Schule, in die er sich jeden Morgen begeben und welche einige hundert Schritte weit, nach einem höheren Theile von Chambly zu, lag.
Diese Straße mündete auf dem Platze der Kirche. Sein Vaterhaus befand sich links an demselben an einer Ecke, und die Rückseite desselben lag nach einem großen Garten zu, der wiederum mit dem rings um den Flecken aufstrebenden Wald zusammenhing.
Die Nacht war sehr dunkel. Die halb offene Hauptpforte der Kirche ließ in deren Innerem eine mattbeleuchtete Versammlung erkennen, auf welche der Armleuchter von der Decke ein ungewisses Licht niederwarf.
Johann, der nicht mehr erkannt zu werden fürchtete - wenn man sich seiner überhaupt noch erinnerte - hatte einen Augenblick die Absicht, sich unter die Andächtigen zu mischen, in diese Kirche einzutreten, dem Abendgottesdienste beizuwohnen und auf diesen Bänken niederzuknien, auf denen er als Kind seine ersten Gebete gelallt hatte. Anfänglich aber schon nach der entgegengesetzten linken Seite des Platzes hingezogen, gelangte er nach der Ecke, wo sein Vaterhaus gestanden.
Er entsann sich genau; hier war es erbaut gewesen. Deutlich traten ihm alle Einzelheiten vor die Augen, das Gitter, welches einen kleinen Vorraum abschloß; der Taubenschlag, der den Giebel rechter Hand überragte; die vier Fenster des Erdgeschosses, die Thür in der Mitte; das Fenster zur Linken im ersten Stockwerk, wo ihm seine Mutter inmitten der dasselbe schmückenden Blumen so oft erschienen war. Er zählte fünfzehn Jahre, als er Chambly zum letzten Male verließ. In diesem Lebensalter haben sich alle Eindrücke schon tief ins Gedächtniß eingegraben. Hier, genau an dieser Stelle, mußte die Wohnung sich befinden, welche die Vorfahren seiner Familie, schon in der ersten Zeit der canadischen Colonie, errichtet hatten.
Jetzt war kein Haus mehr an dieser Stelle - nichts fand sich, als ein Haufen Ruinen; nicht diejenigen, welche allmählich durch die Länge der Zeit entstehen, sondern solche, welche irgend ein trauriges, düsteres Vorkommniß hinterlassen. Hier konnte über dieses gar kein Zweifel aufkommen. Verglaste Steine, geschwärzte Mauerreste, Stücken verkohlter Balken und Haufen von Asche, welche mit der Zeit verbleichte, verriethen, daß das Gebäude schon vor längerer Zeit ein Raub der Flammen geworden war.
Ein entsetzlicher Gedanke durchzuckte Johann. Wer hat diese Feuersbrunst verschuldet?. War sie ein Werk des Zufalls, der Unvorsichtigkeit?. War hier die Hand eines Verbrechers im Spiel gewesen?.
Mit unwiderstehlicher Gewalt dahin gezogen, betrat Johann die Ruinen. Er theilte mit dem Fuße die Asche auf dem Boden. Einige Fledermäuse flatterten davon. Ohne Zweifel, hierher kam niemals Jemand. Warum hatte man aber, hier an der belebtesten Stelle des Fleckens, diese Ruine unberührt liegen lassen? Warum hatte man sich nach dem Brande nicht einmal die Mühe genommen, die Baustelle freizulegen?