Im Laufe der zwölf Jahre, seit er das Vaterhaus verlassen, hatte Johann niemals gehört, daß dasselbe zerstört sei, daß es weiter nichts mehr bilde, als einen wirren Haufen vom Feuer geschwärzter Steine.
Regungslos, krampfhaft zuckenden Herzens dachte er an die traurige Vergangenheit, an die noch traurigere Gegenwart.
»He, was machen Sie da, Herr?« rief ihm jetzt ein alter Mann zu, der auf dem Wege zur Kirche stehen blieb.
Johann, der ihn gar nicht gehört hatte, gab keine Antwort.
»He, wiederholte der alte Mann, sind Sie etwa taub?. Bleiben Sie nicht dort!. Wenn Sie Einer sähe, würden Sie Gefahr laufen, schlecht anzukommen!«
Johann verließ die Ruine, kam nach dem Platz zurück und wendete sich an den, der ihn angesprochen hatte.
»Sprecht Ihr mit mir? fragte er.
- Ja wohl mit Ihnen, Herr. Es ist verboten, diesen Ort zu betreten!
- Und weshalb?
- Weil derselbe verflucht ist!
- Verflucht!« murmelte Johann.
Dieses Wort wiederholte er jedoch mit so leiser Stimme, daß der alte Mann ihn nicht verstehen konnte.
»Sie sind wohl fremd hier, Herr?
- Ja, antwortete Johann.
- Und sind jedenfalls seit so manchen Jahren nicht nach Chambly gekommen?.
- Ganz recht, seit vielen Jahren nicht mehr!.
- Dann ist's ja nicht zu verwundern, daß Sie nichts davon wissen. Glauben Sie mir. es ist ein guter Rath, den ich Ihnen gebe, gehen Sie nicht noch einmal zwischen diese Trümmer hinein.
- Ja, weshalb denn?
- Weil Sie sich schänden würden, wenn Sie nur die Schuhsohlen mit dieser Asche beschmutzen. Das war hier das Haus des Verräthers.
- Des Verräthers?
- Ja, des Simon Morgaz!«
Er wußte es ja zu gut, der Unglückliche.
Von der Wohnstätte also, von der man seine Familie vor zwölf Jahren vertrieben, von der Wohnstätte, die er noch ein letztes Mal hatte wiedersehen wollen und die er für noch vorhanden hielt, war nichts mehr übrig, als einige durch Feuer zerstörte Mauerreste; und die Ueberlieferung hatte daraus einen so verachteten Ort gemacht, daß Keiner es wagte, sich ihm nur zu nähern, daß nicht einer der Bewohner von Chambly denselben erblickte, ohne einen Fluch darauf zu schleudern! Ja, zwölf volle Jahre waren dahingegangen, doch nichts hatte, weder in diesem Flecken, noch sonst wo in den canadischen Provinzen, das Entsetzen zu lindern vermocht, das der Name Simon Morgaz einflößte.
Johann hatte die Augen gesenkt und seine Hände zitterten; er fühlte, daß ihm schwindlich wurde. Ohne die herrschende Dunkelheit hätte der alte Mann die Schamröthe sehen müssen, die ihm ins Gesicht gestiegen war.
Dieser fuhr fort:
»Sie sind selbst Canadier?.
- Ja, bestätigte Johann.
- Dann müssen Sie doch auch jenes von Simon Morgaz begangene Verbrechen kennen?
- Wer in Canada kennt dasselbe nicht?
- Gewiß. Niemand, mein Herr! Sie wohnen wahrscheinlich in den östlichen Grafschaften?
- Ja. im Osten. in Neu-Braunschweig.
- O, das ist weit, freilich sehr weit! Da wußten Sie es wohl gar nicht, daß dieses Haus zerstört worden war?.
- Nein!. Ohne Zweifel durch einen Unfall?.
- Das nicht, lieber Herr. Das nicht! entgegnete der alte Mann. Vielleicht wär's besser gewesen, wenn das himmlische Feuer es vernichtet hätte; und gewiß, das wäre auch den einen oder den anderen Tag geschehen, denn Gott ist immer gerecht. Man griff aber seiner Vergeltung vor! Schon am nächsten Tage, nachdem Simon Morgaz mit seiner Familie von Chambly verjagt worden war, stürzten sich die Leute wüthend auf diese Wohnung und setzten sie in Brand.. Nachher aber, um die Erinnerung an das Vorgefallene niemals erbleichen zu lassen, beschloß man, die Ruinen in demselben Zustande zu belassen, wie Sie dieselben jetzt sehen. Es wurde verboten, sich denselben zu nähern, und gewiß mochte sich Keiner mit dem Staube dieses Hauses entehren!«
Unbeweglich hörte Johann dem Allen zu. Die Lebhaftigkeit, mit der der wackere Mann sprach, bewies, daß der Abscheu vor Allem, was Simon Morgaz gehört hatte, noch heute in voller Stärke lebte. Wo Johann die Erinnerungsmale an seine Familie aufsuchen wollte, da fand er nur das Andenken an ihre Schande!
Inzwischen hatte sich der Andere, während er plauderte, ein wenig von der in die Acht erklärten Stelle entfernt und nach der Kirche zu gewendet. Die Glocke ließ ihre letzten Schläge durch die Luft ertönen. Der Gottesdienst sollte seinen Anfang nehmen.
Schon hörte man einzelne Gesänge, welche von längeren Zwischenräumen unterbrochen wurden.
Da sagte der alte Mann:
»Jetzt, lieber Herr, muß ich Sie verlassen, wenn Sie mich nicht etwa in die Kirche begleiten wollen. Sie würden dort eine Predigt hören, die im ganzen Kirchspiele großes Aufsehen machen dürfte.
- Ich kann nicht, erwiederte Johann; noch vor Tagesanbruch muß ich in Laprairie zurück sein.
- Dann haben Sie keine Zeit zu verlieren, lieber Herr. Na, jedenfalls sind die Wege sicher. Seit einiger Zeit durchstreifen Polizeibeamte die Grafschaft Montreal und suchen nach Johann ohne Namen, den sie, wenn Gott unserm Lande noch gnädig ist, nicht finden werden!. Man rechnet auf diesen jungen Helden, lieber Herr, und hat damit gewiß auch Recht. Wenn ich glauben darf, was mir zu Ohren gekommen ist, so würde er hier nur muthige Männer finden, die alle bereit sind, ihm zu folgen!.
- Wie in der ganzen Grafschaft, antwortete Johann.
- Eher noch mehr, lieber Herr! Haben wir nicht die Schande abzuwaschen, einen Simon Morgaz zum Mitbewohner unseres Ortes gehabt zu haben?«
Der alte Mann liebte es offenbar, ein wenig zu plaudern; endlich nahm er aber doch, Johann gute Nacht wünschend, Abschied. Da hielt ihn dieser mit den Worten zurück:
»Ihr habt die Familie jenes Simon Morgaz jedenfalls gekannt, guter Freund?
- Natürlich, Herr, und wie gut! Ich bin jetzt siebzig Jahre alt und zählte achtundfünfzig zur Zeit jenes abscheulichen Verbrechens. Ich habe dieses Land bewohnt, das auch seine Heimat war, doch nie, niemals würde ich geglaubt haben, daß sich Simon zu so etwas bereit finden ließe.. Was mag wohl aus ihm geworden sein?. Ich weiß es nicht!. Vielleicht ist er todt. vielleicht in die Fremde gegangen, wo er unter falschem Namen lebt, damit man ihm den seinen nicht ins Gesicht schleudern kann? Doch, seine Frau, seine Kinder!. Ach, wie beklage ich diese Unglücklichen! Frau Bridget, die ich so oft gesehen, die immer so gut und edelmüthig war, obwohl sie nur unter bescheidenen Umständen lebte; sie, die im ganzen Flecken überall so beliebt war!. Und welch' warme Vaterlandsliebe trug sie im Herzen!. Was hat sie leiden müssen, das arme Weib! Was hat sie leiden müssen!«
Wie vermöchte man zu schildern, was hierbei im Innern Johanns vorging! Hier, vor den Ueberresten des zerstörten Hauses, hier, wo sich der letzte Act jener Verrätherei abgespielt, wo die Genossen Simon Morgaz' ausgeliefert worden waren, den Namen seiner Mutter preisen zu hören, in der Erinnerung alles Elend seines Lebens noch einmal durchzukosten - das erschien ihm fast mehr, als eine Menschennatur ertragen konnte. Johann bedurfte auch einer außergewöhnlichen Energie, um zu verhüten, daß sich kein Schmerzensschrei seiner Brust entrang.
Der alte Mann fuhr fort:
»So wie die Mutter, hab' ich auch die beiden Söhne gekannt! Sie hielten treu zu ihr! Ach, die armen Leute!. Wo mögen sie in dieser Minute sein?. Alle hier liebten sie wegen ihres Charakters, ihrer Offenheit und ihres guten Herzens! Der Aeltere war schon sehr ernst und fleißig, der Jüngere mehr aufgeräumt, aber entschiedener und stets bereit, die Schwachen gegen die Stärkeren zu schützen.. Er hieß Johann. Sein Bruder wurde Joann genannt. richtig, genau wie der junge Geistliche, der eben jetzt predigen wird.