- Der Abbe Joann?. rief Johann.
- Sie kennen ihn?
- Nein, guter Freund. nein!. Ich habe aber von seinen Predigten gehört.
- Nun also, wenn Sie ihn nicht kennen, lieber Herr, so müssen Sie schon seine Bekanntschaft machen. Er ist durch alle Grafschaften des Westens gezogen, und überall sind die Leute zusammengeströmt, um ihn zu hören. Sie werden ja selbst sehen, welche Begeisterung er zu entzünden vermag!. Wenn Sie Ihren Aufbruch nur um eine Stunde verzögern können.
- Ich folge Euch!« unterbrach ihn Johann.
Der Greis und er begaben sich nach der Kirche, wo sie einige Mühe hatten Platz zu finden.
Die ersten Gebete waren gesprochen und der Prediger bestieg eben die Kanzel.
Der Abbe Joann war dreißig Jahre alt. Mit dem leidenschaftlichen Gesichte, dem durchdringenden Blicke und der warmen überzeugenden Stimme glich er ganz seinem Bruder und war auch ebenso ohne Bart wie dieser. In Beiden fanden sich die charakteristischen Züge ihrer Mutter wieder. Wenn man ihn hörte, wie wenn man ihn sah, begriff man wohl den Einfluß, den der Abbe Joann auf die von seinem Rufe herbeigelockten Massen ausübte. Ein Wortführer des katholischen Glaubens wie des Glaubens und der Hoffnung des Landes, war er ein Apostel im wahren Sinne des Wortes, ein Kind jener mächtig wirkenden Missionäre, welche sich opferwillig genug zeigen, das Blut für ihren Glauben zu verspritzen.
Der Abbe Joann begann seine Predigt. Aus Allem, was er von Gottes Gerechtigkeit sprach, fühlte man heraus, was er zum Besten seines Vaterlandes sagen wollte. Seine Anspielungen auf die jetzige Lage Canadas waren darauf berechnet, die Zuhörer zu begeistern, deren Patriotismus nur die Gelegenheit erwartete, sich in Thaten umzusetzen. Seine Bewegung, sein Wort, seine Haltung erregten etwas wie ein dumpfes Beben in der bescheidenen Dorfkirche, als er die Hilfe des Himmels anrief gegen die Räuber der althergebrachten Freiheiten. Man hätte sagen mögen, seine zitternde Stimme verklinge gleich einer Trompete, sein ausgestreckter Arm schwinge von der Kanzel herab die Fahne der Unabhängigkeit.
Im Schatten verborgen, hörte Johann ihm zu. Es erschien ihm, als wär' er es selbst, der hier durch den Mund seines Bruders sprach. Es waren ja dieselben Gedanken, dieselben Hoffnungen und Wünsche, welche sich in diesen so nahe verwandten Wesen begegneten. Beide kämpften für ihre Heimat, jeder auf seine Weise, der Eine mit dem Worte, der Andere durch die That, Beide aber zum schwersten Opfer gleich bereit.
Jener Zeit besaß der katholische Clerus in Canada sowohl in socialer wie in intellectueller Hinsicht einen großen Einfluß.
Man betrachtete die Geistlichen als geheiligte Personen. Es war der Kampf der alten katholischen Glaubensgesetze, welche die französischen Elemente der Colonie von Anfang an eingepflanzt hatten, gegen die protestantischen Dogmen, denen die Engländer überall Eingang zu verschaffen suchten. Die Parochianen sammelten sich da um den Priester, den thatsächlichen Vorsteher der Kirchspiele, und der Politik, welche dahin zielte, die canadischen Provinzen den englischen Händen zu entwinden, war diese Verbrüderung der Geistlichkeit und der Gläubigen keineswegs fremd.
Der Abbe Joann gehörte, wie bekannt, zum Orden des heiligen Sulpice. Der Leser wird aber kaum wissen, daß dieser Orden als Besitzer eines großen Theiles des Landes seit dessen Eroberung noch heute aus demselben sehr beträchtliche Einkünfte bezieht. Verschiedene Servitute, welche, vorzüglich auf der Insel Montreal im Sinne von Herrenrechten, einst durch Richelieu gewährt wurden, haben noch heute zum Besten der Congregation Geltung. Es folgt hieraus, daß die Sulpicianer in Canada eine ebenso geehrte wie mächtige Gesellschaft bilden, und daß die Priester, welche noch immer die reichsten Landeigenthümer sind, dadurch gleichzeitig einen weitreichenden Einfluß ausüben.
Die Predigt - man hätte auch sagen können, der feurige Aufruf an alle Patrioten - dauerte gegen dreiviertel Stunden lang. Sie begeisterte die Zuhörer in so hohem Grade, daß sie -ohne die Heiligkeit des Orts - dieselbe mit lautem Beifall beantwortet hätten. Die nationale Faser in ihnen war durch diese eindringliche Anregung neu belebt worden. Vielleicht wunderte man sich darüber, daß die Behörden diese Predigten, in denen sich die Propaganda der Reformer unter dem Deckmantel des Evangeliums verbarg, so ohne Einschränkung gestattete. Es wäre jedoch schwierig gewesen, in denselben eine directe Aufforderung zur Empörung nachzuweisen, und außerdem genoß die Kanzel eine Freiheit, an welche die Regierung nur im äußersten Nothfall rühren wollte.
Nach Beendigung der Predigt zog sich Johann in einen Winkel der Kirche zurück. Während die Menge sich verlief, wollte er sich vielleicht dem Abbe Joann zu erkennen geben, seine Hand drücken, mit ihm wenige Worte wechseln, ehe er sich wieder zu seinen Genossen im Pachthofe von Chipogan begab. Ja, wahrscheinlich. Die beiden Brüder hatten sich seit einigen Monaten nicht gesehen, da Jeder seine eigene Straße zog, um an demselben Werke der nationalen Erhebung thätig zu sein.
Johann wartete also hinter den ersten Pfeilern des Kirchenschiffes, als draußen ein heftiges Lärmen entstand, aus dem man Geschrei, Ausrufe und wüstes Geheul vernahm. Es erschien so, als ob die Volkswuth mit zügelloser Heftigkeit ausgebrochen wäre. Gleichzeitig flackerte ein heller Schein über den Platz, von dem einzelne Strahlen selbst ins Kircheninnere drangen.
Die Woge der Zuhörer wälzte sich hinaus, und, wider Willen mit fortgezogen, folgte ihr Johann bis zur Mitte des Platzes.
Was ging wohl hier vor?
Vor den Ruinen des Hauses des Verräthers war ein großes Feuer angezündet worden. Mehrere Männer, zu denen sich auch bald Frauen und Kinder gesellten, ernährten die Flammen, in die sie ganze Arme voll trockenen Holzes warfen.
Unter den wilden Ausrufen hörte man wohl auch die haßerfüllten Worte:
»Ins Feuer mit dem Verräther!. Ins Feuer mit Simon Morgaz!«
Dann wurde eine Art mit Lumpen bedeckter Hanswurst nach den lodernden Flammen geschleppt.
Johann begriff Alles. Die Bewohner von Chambly verschritten zur Hinrichtung des Elenden in effigie, wie man in
London noch heute das Bild Guy Fawke's, jenes verbrecherischen Helden der Pulververschwörung, durch die Straßen schleppt.
Heute, am 27. September, war der Jahrestag, wo Walter Hodge und seine Genossen Francis Clerc und Robert Farran auf dem Schaffot den Tod gefunden hatten.
Vom Entsetzen gepackt, wollte Johann entfliehen. er konnte nicht von der Stelle weg; es schien, als ob seine Füße fest in den Erdboden eingewurzelt wären. So mußte er es denn mit ansehen, wie das Zerrbild seines Vaters mit Schmähworten überhäuft, von Schlägen zerfleischt und mit Koth besudelt wurde, den die Menschenmenge in wahnwitzigem Hasse auf ihn warf, und es erschien ihm, als ob alle diese Schmach auf ihn, Johann Morgaz, zurückfiele.
Da erschien der Abbe Joann - die Menge wich auseinander, um ihm Durchgang zu gestatten.
Auch er hatte die Bedeutung dieses Volksauflaufes schnell durchschaut. Da erkannte er auch seinen Bruder, dessen bleiches Gesicht von dem Widerschein der Flammen erleuchtet war, während Hunderte von Stimmen neben dem verhaßten 27. September den verachteten Namen Simon Morgaz' ausriefen.
Der Abbe Joann war seiner kaum noch Herr. Er streckte die Arme aus und drängte sich nach dem Scheiterhaufen durch, als die Puppe in die prasselnde Gluth geworfen werden sollte.
»Im Namen des allbarmherzigen Gottes! rief er; Mitleid für das Andenken dieses Unglücklichen!. Hat Gott nicht auch Vergebung für alle Sünder?
- Für den Vaterlandsverräther, für den Verrath an Denjenigen, die für die Heimat gekämpft haben, gibt es keine Gnade!«
In der nächsten Minute schon hatte das Feuer, wie das alljährlich geschah, das Bild Simon Morgaz' verzehrt.
Das wilde Geschrei tobte lauter und verhallte erst, als die Flammen langsam verloschen.