Im jetzt herrschenden Dunkel hatte Niemand sehen können, daß Johann und Joann zu einander getreten waren und, die Hände verschränkt, Beide den Kopf niedersenkten.
Ohne ein Wort gesprochen zu haben, verließen sie den Schauplatz dieser schrecklichen Scene und flohen wie verfolgt aus dem Flecken Chambly, nach dem sie nimmer wiederkehren sollten.
Neuntes Capitel
Ein geschlossenes Haus
Sechs Lieues von St. Denis erhebt sich der Flecken St. Charles am Nordufer des Richelieu in der Grafschaft St. Hyacinthe, welche an die von Montreal grenzt. Folgt man dem Richelieu, einem der bedeutendsten Zuflüsse des St. Lorenzo, stromaufwärts, so gelangt man nach der kleinen Stadt Sorel, wo der »Champlain« während seiner letzten Fahrt vor Anker gegangen war.
Jener Zeit stand noch, einige Hundert Schritte vor der Biegung, welche die Hauptstraße von St. Charles da macht, wo sie zwischen den ersten Häusern des Fleckens verläuft, ein kleines, vereinzeltes Häuschen.
Es war eine bescheidene, ja dürftige Wohnstatt, welche nur aus dem Erdgeschoß mit einer Thür und zwei Fenstern bestand, in deren abgegrenztem Vorraum das Unkraut wucherte. Meist war die Thür verschlossen; auch die Fenster wurden niemals geöffnet, nicht einmal hinter den Läden mit voller Füllung, welche stets geschlossen gehalten wurden. Das Licht des Tages konnte so allein durch zwei an der, nach einem Garten zu gelegenen Hinterfront des Häuschens befindliche Fenster Eingang finden.
Dieser Garten bildete ein Viereck mit hohen von Glaskraut überwucherten Mauern und mit einem von halb verfallenem Steingeländer eingefaßten Brunnen. Hier wuchsen auf der Fläche etwa eines Fünftel Ackers verschiedene Gemüse; dort vegetirten etwa ein Dutzend Obstbäume, Birn-, Nuß- und Apfelbäume, welche alle der Sorge der Natur überlassen waren. Ein kleiner Hühnerhof, der in den Garten hereinreichte und auf der anderen Seite das Haus berührte, beherbergte fünf bis sechs Hühner, welche die für den täglichen Bedarf nöthige Menge Eier lieferten.
Das Innere dieses Hauses enthielt nur drei Räume mit wenigen Möbeln - und zwar nur, was von diesen unumgänglich nöthig erschien. Der eine dieser Räume zur Linken des Eingangs diente als Küche, die beiden anderen zur Rechten als Schlafzimmer. Die enge, sie trennende Hausflur bildete den Verbindungsgang zwischen Vorraum und Garten.
Ja, dieses Haus war sehr dürftig und klein; man glaubte es aber herauszufühlen, daß der oder die Bewohner gerade gewünscht haben mochten, unter solchen ärmlichen Verhältnissen zu leben. Die Bewohner von St. Charles irrten hiermit auch nicht. Klopfte einmal ein Bettler an die Thür des »geschlossenen Hauses« - wie es im Orte allgemein genannt wurde - so ging er gewiß nicht ohne ein kleines Almosen davon.
Das »geschlossene Haus« hätte ebenso gut das »mildthätige Haus« heißen können, denn die Mildthätigkeit äußerte sich hier zu jeder Stunde.
Wer dasselbe bewohnte?. Eine einzelne, stets schwarz gekleidete und von langem Witwenschleier umhüllte Frau. -Sie verließ nur selten das Haus - ein- oder zweimal die Woche, wenn sie ausgehen mußte, um irgend etwas einzukaufen, oder des Sonntags, um in die Kirche zu gehen. Handelte es sich um einen Einkauf, so wartete sie damit bis es Nacht oder mindestens ganz dunkel geworden war, schlüpfte dann durch die düsteren Straßen längs der Häuser hin, trat rasch in einen Laden, sprach mit leiser Stimme nur wenige Worte, bezahlte ohne zu feilschen und kehrte gesenkten Kopfes, die Augen zur Erde gerichtet, wieder um, als ob das arme Wesen sich geschämt hätte, von Anderen gesehen zu werden. Ging sie zur Kirche, so geschah das nur ganz früh, zur ersten Messe. Sie hielt sich dann abseits, in einer wenig erleuchteten Ecke, wo sie, wie ganz in sich zurückgezogen, kniete. Unter dem sie verhüllenden Schleier verhielt sie sich fast erschreckend still und regungslos. Man hätte sie für todt halten können, wenn sich nicht zuweilen ein schmerzlicher Seufzer ihrer Brust entrungen hätte. In ärmlichen, drückenden Verhältnissen schien diese seltsame Frau zwar nicht zu leben, und doch mußte sie allem Anscheine nach höchst unglücklich sein. Ein- oder zweimal hatten gute Seelen ihr beispringen, ihre Dienste anbieten, ihr Interesse erwecken und ihr einige Worte der Theilnahme zuflüstern wollen. Doch da hüllte sie sich nur tiefer in ihre Trauerkleidung und wich zurück, als ob sie selbst ein Gegenstand des Schreckens gewesen wäre.
Die Einwohner von St. Charles kannten diese Fremde, man hätte sagen können, diese Einsiedlerin, sonst ganz und gar nicht. Vor zwölf Jahren war sie nach dem Flecken gekommen, um das für ihre Rechnung zu sehr niedrigem Preise erkaufte Haus zu beziehen, denn die Gemeinde, der dasselbe gehörte, hatte es schon seit längerer Zeit ausgeboten und fand doch Niemand, der es haben wollte.
Eines Tages hörte man, daß die neue Besitzerin während der Nacht angekommen und in ihre Wohnung gezogen sei, ohne daß sie Jemand hätte eintreten sehen. Man wußte nicht, wer ihr beim Transport des dürftigen Mobiliars geholfen haben mochte; sie miethete auch keine Magd, um ihr im Haushalte beizustehen. Niemals konnte Jemand bis zu ihr eindringen. So lebte sie jetzt, und so hatte sie seit ihrer Ankunft in St. Charles in strenger, fast klösterlicher Abgeschiedenheit gelebt. Die Mauern des geschlossenen Hauses glichen auch wirklich denen eines Klosters, das noch kein Unbefugter jemals betreten hatte.
Die Bewohner des Fleckens suchten auch gar nicht das Leben dieser Frau zu durchschauen oder die Geheimnisse ihrer Existenz zu entschleiern. Während der ersten Tage nach ihrer Uebersiedlung hierher steckte man wohl ein wenig die Köpfe zusammen und es entstanden manche Redereien über die Besitzerin des geschlossenen Hauses.
Man vermuthete das und jenes, bald aber beschäftigte man sich nicht weiter mit ihr. Soweit es ihre Mittel gestatteten, erwies sie sich mildthätig gegen die Armen des Landes, und schon das sicherte ihr die Achtung Aller.
Ziemlich groß, doch etwas gebeugt, wohl mehr durch Kummer als durch das Alter, mochte die Fremde jetzt etwa fünfzig Jahre zählen. Unter dem Schleier, der sie zur Hälfte bedeckte, verbarg sich ein Gesicht, welches schön gewesen sein mußte, dafür zeugten noch die hohe Stirn und die schwarzen feurigen Augen. Ihr Scheitel freilich war ganz weiß; ihr Blick schien verschleiert von den unstillbaren Thränen, die denselben so lange gebadet hatten. Jetzt war der Ausdruck dieser sonst sanften und lächelnden Physiognomie der einer düsteren Entschlossenheit, eines unbeugsamen Willens.
Hätte die öffentliche Neugier sich etwas mehr befleißigt, das geschlossene Haus zu überwachen, so wäre der Beweis zu erbringen gewesen, daß sie sich doch nicht unbedingt jedem Gaste verschloß.
Drei- oder viermal des Jahres, allemal in der Nacht, öffnete sich die Pforte vor einem, manchmal vor zwei Fremden, welche freilich keine Vorsicht außer Acht ließen, ungesehen hierher und auch wieder fort zu kommen. Niemand hätte sagen können, ob sie nur wenige Stunden oder mehrere Tage in diesem Hause verweilten. Wenn sie es wieder verließen, so geschah das jedenfalls vor dem Tagesgrauen.
Niemand konnte also bezweifeln, daß diese seltsame Frau noch irgend welche Beziehungen mit der Außenwelt unterhielt.
Ein solcher Fall trat in der Nacht des 30. September 1837 gegen elf Uhr ein. Die große, die ganze Grafschaft St. Hyazinthe von Ost nach West durchziehende Landstraße führt nach St. Charles und über dieses hinaus. Sie war zu jener Stunde menschenleer. Tiefe Dunkelheit umhüllte den eingeschlummerten Flecken. Kein Bewohner desselben konnte die beiden Männer sehen, welche auf dieser Straße herankamen, bis zu dem geschlossenen Hause schlichen, die Gitterthür des kleinen Vorhofes öffneten und dann in einer Weise an die Thür klopften, daß sich schon daraus ein verabredetes Erkennungszeichen verrieth.
Die Thür öffnete sich und verschloß sich sofort wieder. Die beiden nächtlichen Besucher traten in das erste Zimmer zur Rechten, dessen schwache, von einer Art Nachtlicht erzeugte Beleuchtung außerhalb des Hauses nicht wahrgenommen werden konnte.