Clary wollte sie aufrichten.
»Lassen Sie mich Ihnen helfen, sagte sie zu ihr. Stützen Sie sich auf mich. Wir können nicht mehr weit haben.
- Doch, eine Stunde Wegs, antwortete Bridget, und ich werde leider nicht im Stande sein.
- Ruhen Sie einen Augenblick aus; nachher gehen wir weiter. Sie nehmen meinen Arm!. Fürchten Sie nicht, mich zu ermüden!. Ich bin stark.
- Stark!. Armes Kind. auch Sie werden bald niedersinken!«
Bridget hatte sich auf die Knie erhoben.
»Hören Sie mich an, sagte sie, ich werde versuchen noch einige Schritte zu machen. Doch wenn ich wieder nicht weiter fort kann, so lassen Sie mich zurück.
- Sie zurücklassen?. rief Clary.
- Ja, denn nur Eins ist jetzt nöthig, daß Sie noch diese Nacht bei Ihrem Vater sind. Die Straße geht gerade aus. Das geschlossene Haus ist das erste, welches sich linker Hand vor der Ortschaft findet. Sie klopfen da an die Thür. Nennen Ihren Namen. Johann wird dann schon öffnen.
- Nein, ich verlasse Sie nicht, antwortete das junge Mädchen. Ohne Sie gehe ich nicht weiter.
- Doch, es muß sein, Clary de Vaudreuil, antwortete Bridget. Wenn Sie dann in Sicherheit sind, wird schon mein Sohn kommen, mich zu holen. Er wird mich tragen, wie er Herrn de Vaudreuil getragen hat.
- Ach, ich flehe Sie an, versuchen Sie zu gehen, Madame Bridget!«
Bridget gelang es, sich noch einmal aufzurichten; sie schleppte sich aber nur mit größter Anstrengung vorwärts. Immerhin kamen Beide noch etwa eine Meile weiter.
Da erhellte sich der Horizont mit einem Schein, der im Osten von St. Charles emporstieg. Waren das schon die ersten Strahlen des Morgenrothes und sollte es nicht möglich sein, das geschlossene Haus vor dem Tage zu erreichen?
»Vorwärts, gehen Sie! murmelte Bridget. Gehen Sie, Clary de Vaudreuil, lassen Sie mich hier!
- Das ist nicht der Tag, antwortete Clary. Es ist kaum vier Uhr Morgens. Das muß der Widerschein einer Feuersbrunst sein.«
Clary vollendete den Satz nicht ganz; ihr kam der Gedanke ebenso wie Bridget, daß vielleicht das geschlossene Haus eine Beute der Flammen werde, daß das Versteck des Herrn de Vaudreuil aufgefunden worden sei, daß er und Johann von den Soldaten Whiterall's gefangen wären, wenn sie nicht bei der Vertheidigung den Tod gefunden hätten.
Diese Furcht regte in Bridget noch einmal die letzten Kräfte an. Ihre Schritte beschleunigend, näherten sie sich St. Charles mehr und mehr.
Die Landstraße bildete an dieser Stelle einen ziemlich scharfen Winkel, und jenseits desselben erhob sich das geschlossene Haus.
Clary und Bridget gelangten zu der Straßenbiegung.
Das geschlossene Haus war es nicht, welches in Flammen stand, es brannte vielmehr eine zur Rechten des Fleckens gelegene Farm, deren Flammenschein sich am Horizonte widerspiegelte.
»Da!. Da ist es!« rief Bridget, indem sie mit zitternder Hand nach ihrer Wohnung hinwies.
Noch fünf bis sechs Minuten, und die beiden Frauen mußten darin Schutz gefunden haben.
In diesem Augenblicke erschien ein Trupp von drei Männern, welche die Straße herabkamen - drei Freiwillige, schwankend auf den Füßen, betrunken von Branntwein und besudelt mit Blut.
Clary und Bridget wollten ihnen aus dem Wege gehen und wichen seitlich aus. Es war zu spät.
Die Freiwilligen hatten sie bemerkt und stürzten sich auf sie zu. Von diesen erbärmlichen Burschen war das Schlimmste zu fürchten. Einer derselben hatte das junge Mädchen gepackt und suchte dieses mit sich fortzuziehen, während die beiden Anderen Bridget festhielten.
Bridget und Clary riefen um Hilfe. Wer hätte ihre Rufe aber sonst hören können, als andere Soldaten, die vielleicht weniger betrunken und vielleicht noch gefährlicher waren, als diese hier?
Plötzlich sprang ein Mann aus dem Dickicht zur Linken und streckte mit einem Schlage den Schurken zu Boden, der sich an dem jungen Mädchen vergriffen hatte.
»Clary de Vaudreuil!. rief er.
- Vincent Hodge!«
Und Clary klammerte sich an den Arm Hodge's, den sie beim Scheine der Flammen erkannt hatte.
Als Herr de Vaudreuil auf dem Schlachtfelde von St. Charles gefallen war, hatte Vincent Hodge ihm nicht zu Hilfe eilen können, er wußte auch nicht, daß Johann ohne Namen diesen gleich darauf aus dem Getümmel getragen, und war deshalb, als das Feuer verstummte, in die Nachbarschaft des Fleckens zurückgekehrt, auf die Gefahr hin, den Königlichen in die Hände zu fallen. Nach Einbruch der Nacht versuchte er dann, Herrn de Vaudreuil unter den Verwundeten oder Todten zu entdecken, welche in großer Menge den Kampfplatz bedeckten.
Nachdem er vergeblich bis zur Stunde, wo es im Osten zu dämmern begann, umhergesucht, schlich er eben wieder die Straße herunter, als ferne Hilferufe ihn nach dem Orte führten, wo Clary gegen eine Gefahr, die schlimmer gewesen wäre als der Tod, ankämpfte.
Vincent Hodge hatte nicht Zeit genug, um zu erfahren, daß Herr de Vaudreuil in dieses nur wenige Schritte entfernte Haus geschafft worden war, sondern mußte sich gegen zwei Schurken wehren, welche von Bridget losgelassen hatten, um sich auf ihn zu stürzen. Ihr Geschrei war auch weit die Straße hinauf gehört worden. Fünf oder sechs Freiwillige kamen herzugelaufen, ihnen Hilfe zu leisten. Für Clary und Bridget war es die höchste Zeit, sich in das geschlossene Haus zu retten.
»Flieht!. Flieht! rief Vincent Hodge. Ich werde schon von den Burschen loskommen.«
Bridget und Clary eilten die Straße hinab, während Vincent Hodge seine beiden Gegner, die in Folge ihrer Trunkenheit weniger gefährlich waren, tüchtig bearbeitete.
Und ehe deren Kameraden ganz heran kommen konnten, sprang er ins Dickicht. Wohl knallten ihm einige Flintenschüsse nach, doch ohne daß die Kugeln ihr Ziel erreichten.
Bald klopfte Bridget an die Thür des geschlossenen Hauses, die sich sofort öffnete; sie ließ das junge Mädchen eintreten und sank in die Arme ihres Sohnes.
Viertes Capitel
Die folgenden acht Tage
Das geschlossene Haus bot also jetzt Herrn und Fräulein de Vaudreuil ein, wenn auch etwas unsicheres Obdach. Beide befanden sich im Schutze der Familie ohne Namen, bei der Gattin und dem Sohne des Verräthers. Wenn sie noch nicht wußten, welche Bande die bejahrte Frau mit Simon Morgaz verknüpften und ebenso diesen jungen Mann, welche Beide ihr Leben aufs Spiel setzten, um ihnen Unterkommen zu gewähren, so wußten das doch Bridget und Johann nur zu gut, und vor Allem fürchteten sie, daß auch ihre Schutzbefohlenen es durch einen unglücklichen Zufall erfahren könnten.
Gegen Morgen dieses Tages - des 26. September - kam Herr de Vaudreuil wieder ein wenig zum Bewußtsein. Die Stimme seiner Tochter hatte ihn aus dem Todesschlafe erweckt. Er schlug die Augen auf.
»Clary!. murmelte er.
- Mein Vater!. Ich bin es! antwortete Clary. Ich bin hier bei Dir!. Ich werde Dich nicht mehr verlassen.«
Johann stand im Halbdunkel am Fußende des Lagers, als bemühte er sich, ungesehen zu bleiben. Der Blick des Verwundeten fiel auf ihn und seinen Lippen entschlüpften die Worte:
»Johann!. Ach. ich entsinne mich!.«
Dann bemerkte er Bridget, welche sich über seinen Pfühl niederbeugte, und seine Miene schien zu fragen, wer diese Frau sei.
»Es ist meine Mutter, sagte Johann. Sie sind im Hause meiner Mutter, Herr de Vaudreuil. An ihrer Pflege und der Ihrer Tochter wird es ihnen nicht fehlen.
- Ihrer Pflege!. wiederholte Herr de Vaudreuil mit schwacher Stimme. Ja, ja, jetzt kommt mir die Erinnerung wieder!. Verwundet!. Besiegt!. Meine Gefährten entflohen. todt. wer weiß es?. Ach, mein armes Vaterland. nun drückt Dich ein schlimmeres Joch als je zuvor!«
Herr de Vaudreuil ließ den Kopf herabsinken und seine Augen schlossen sich wieder.