Er hauchte die Brillengläser an und wischte sie erneut ab. »Und ich weigere mich zu glauben, daß zwei Zeitläufe existieren sollen, in denen Lady Schrapnell und ihr Projekt, die Kathedrale von Coventry wiederaufzubauen, existieren.«
Lady Schrapnell. Sie konnte jeden Augenblick vom Royal Masonic zurückkommen. Ich beugte mich im Sessel vor. »Mr. Dunworthy«, sagte ich, »ich hoffte, Sie würden ein Plätzchen wissen, an dem ich mich von der Zeitkrankheit erholen kann.«
»Andererseits könnte es gut sein, daß keine Inkonsequenz entstand, weil es schnell genug wieder zurückgebracht wurde und das Ganze deshalb keine Folgen nach sich zog, katastrophale oder andere.«
»Die Krankenschwester sagte, zwei Wochen Bettruhe, aber ich könnte auch in drei, vier Tagen wieder auf den Beinen…«
»Doch selbst wenn das der Fall sein sollte«, Dunworthy stand auf und begann auf und ab zu marschieren, »gibt es trotzdem keinen Grund zur Eile. Das ist das Schöne am Zeitreisen. Man kann drei, vier Tage warten oder zwei Wochen, selbst ein Jahr, und die Sachen werden doch sofort wieder zurückgebracht.«
»Wenn Lady Schrapnell mich findet…«
Er blieb stehen und starrte mich an. »Das habe ich ja ganz vergessen. Oh, mein Gott, wenn Lady Schrapnell das erfährt…«
»Wenn Sie mir einfach ein ruhiges, abgelegenes Fleckchen…«
»Finch!« schrie Dunworthy, und Finch erschien aus dem äußeren Büro, einen Ausdruck in der Hand.
»Hier habe ich alles über parachronistische Inkonsequenzen«, sagte er. »Viel ist es nicht. Mr. Andrews ist in 1560. Lady Schrapnell schickte ihn dorthin, um Lichtgaden zu studieren. Soll ich noch mal Mr. Chiswick holen?«
»Eins nach dem anderen«, sagte Dunworthy. »Zuerst müssen wir für Ned ein Plätzchen finden, wo er sich ausruhen und ohne Störung von seinen Symptomen erholen kann.«
»Lady Schrapnell…«
»Genau«, sagte Dunworthy. »So etwas gibt es in diesem Jahrhundert nicht. Im zwanzigsten Jahrhundert ebensowenig. Und es muß friedlich und abgelegen sein, ein Landhaus vielleicht, oder eher ein Fluß. Die Themse…«
»Sie wollen doch nicht etwa…?« rief Finch.
»Er muß sofort verschwinden«, sagte Dunworthy. »Bevor Lady Schrapnell es merkt.«
»Oh!« Finch japste. »Ja, ich verstehe. Aber Mr. Henry ist nicht in der Verfassung, zu…« Dunworthy schnitt ihm das Wort ab.
»Ned«, sagte er zu mir, »was halten Sie vom victorianischen Zeitalter?«
Das victorianische Zeitalter. Lange verträumte Nachmittage auf der Themse und Crocketspiel auf smaragdgrünen Wiesen mit Mädchen in weißen Kleidern und flatternden Bändern im Haar. Und danach Tee unter einer Weide, serviert in zerbrechlichen Sevres-Tassen von beflissenen Butlern, die sorgsam bemüht sind, jedermanns Schrullen zu erfüllen, und dieselben Mädchen, die laut aus einem schmalen Band Gedichte vorlesen, ihre Stimmen wie Blütenblätter in der duftenden Luft schwebend. »›Den ganzen goldenen Nachmittag, dorthin, wo um verschlung’ne Kindheitsträume verborgen sich Erinnerung’ windet…‹«[5]
Finch schüttelte den Kopf. »Ich halte das für keinen guten Einfall, Mr. Dunworthy.«
»Unsinn«, sagte Dunworthy. »Hören Sie ihm doch zu. Er paßt genau dorthin.«
3. Kapitel
»Wenn man das Unmögliche ausschließt, muß das, was übrigbleibt, gleichgültig, wie unwahrscheinlich es auch erscheinen mag, die Wahrheit sein.«
Ein leichter Job • Engel, Erzengel, Cherubim, Mächte, Throne, Untergebene und Das Andere • Schläfrigkeit • Unterricht in Geschichte und Gebräuchen des victorianischen Zeitalters • Gepäck • Die inspirierende Geschichte von Marineleutnant Klepperman • Mehr Gepäck • Schwierigkeiten, Laute zu unterscheiden • Fischgabeln • Sirenen, Luftgeister, Nymphen, Dryaden und Das Andere • Eine Ankunft • Doch nicht des Menschen bester Freund • Eine weitere Ankunft • Eine plötzliche Abreise
»Halten Sie das wirklich für eine gute Idee?« fragte Finch. »Er leidet doch bereits unter fortgeschrittener Zeitkrankheit. Ein solch großer Sprung wird vielleicht…«
»Nicht unbedingt«, sagte Dunworthy. »Und wenn er seinen Auftrag erfüllt hat, kann er so lange dort bleiben, wie er zum Erholen braucht. Sie haben ihn ja selbst gehört. Es ist der ideale Ort, um Urlaub zu machen.«
»Aber wird er in seinem Zustand überhaupt…?« fragte Finch besorgt.
»Der Job ist ganz leicht. Ein Kind könnte ihn erledigen. Allerdings muß er erledigt werden, bevor Lady Schrapnell zurückkehrt. Ned ist der einzige Historiker in Oxford, der nicht irgendwo unterwegs ist, um Misericordien[6] nachzujagen. Bringen Sie ihn zum Netz hinüber, rufen Sie dann die Abteilung Zeitreise an und bitten Sie Chiswick, zu mir zu kommen.«
Das Telefon klingelte, und Finch hob den Hörer ab. Er lauschte eine beträchtliche Zeitspanne. »Nein, er war im Royal Masonic«, sagte er schließlich. »Sie beschlossen, aber noch ein TWR durchzuführen, und deshalb mußten sie ihn ins St. Thomas bringen. Ja, in der Lambeth Palace Street.« Er lauschte wieder und hielt dann den Hörer etwas vom Ohr weg. »Nein, diesmal bin ich mir sicher.« Dann legte er auf. »Das war Lady Schrapnell«, erklärte er unnötigerweise. »Ich befürchte, sie wird bald wieder hier sein.«
»Was ist ein TWR?« fragte Dunworthy.
»Eine Erfindung von mir. Es wäre das Beste, Mr. Henry ginge jetzt hinüber zum Netz, um sich vorzubereiten.«
Finch brachte mich hin, wofür ich sehr dankbar war, vor allem weil es mir vorkam, als liefen wir in die völlig falsche Richtung, obwohl die Tür, als wir ankamen, aussah wie immer und die üblichen Demonstranten davor Posten bezogen hatten.
Sie trugen Leuchtplakate mit der Aufschrift: »Was stimmt nicht mit der, die wir bereits haben?« — »Laßt Coventry in Coventry!« — »Sie gehört uns!« Einer der Demonstranten überreichte mir einen Handzettel, der mit den Worten begann: »Der Wiederaufbau der Kathedrale von Coventry wird fünfzig Milliarden Pfund kosten. Für diesen Betrag könnte man nicht nur die jetzige Kathedrale zurückkaufen und restaurieren, sondern auch ein moderneres, größeres Einkaufszentrum an ihre Stelle setzen.«
Finch nahm mir das Traktat aus der Hand, gab es dem Demonstranten zurück und öffnete die Tür.
Das Netz sah aus wie immer, aber die dickliche junge Frau an der Konsole war mir fremd. Sie trug einen weißen Laborkittel, und mit dem Kranz ihres kurzgeschnittenen Haares sah sie eher aus wie ein Cherub als eine Netztechnikerin.
Finch schloß die Tür hinter uns, und die Frau wirbelte herum. »Was wollen Sie?« fragte sie barsch.
Vielleicht eher ein Erzengel als ein Cherub.
»Wir wollen einen Sprung vorbereiten lassen«, sagte Finch. »Victorianisches Zeitalter, England.«
»Ausgeschlossen«, schnauzte sie.
Tatsächlich — ein Erzengel. Die Sorte, die Adam und Eva aus dem Paradies schmiß.
»Mr. Dunworthy hat ihn genehmigt, Miss…«
»Warder«, schnauzte sie.
»Es ist ein Sprung höchster Priorität, Miss Warder«, sagte Finch.
»Das sind sie alle. Lady Schrapnell genehmigt keine anderen.« Die Frau schnappte ein Clipboard und schwenkte es wie ein Flammenschwert in unsere Richtung. »Neunzehn Sprünge. Für vierzehn davon brauchen wir 1940er Luftschutz- und WVS-Uniformen, wovon die Kleiderkammerüberhaupt keine mehr auf Lager hat, gar nicht zu reden von den Ausbesserungen und der Reinigung. Ich bin drei Stunden mit einem Rendezvous im Verzug, und wer weiß, wie viele Sprünge höchster Priorität Lady Schrapnell heute noch verlangen wird.« Sie warf das Clipboard auf den Tisch. »Ich habe keine Zeit für Sperenzchen. Victorianisches England! Sagen Sie Mr. Dunworthy, daß das völlig unmöglich ist!« Sie wandte sich wieder der Konsole zu und begann, auf die Tasten zu hämmern.
6
Vorsprünge an den Klappstühlen des Chorgestühles, als Gesäßstütze während des Stehens dienend, oft mit Schnitzereien. —