Finch schlug furchtlos einen anderen Weg ein. »Wo ist Mr. Chaudhuri?«
»Eben«, sagte sie und wirbelte wieder herum. »Wo ist Badri? Warum kümmert er sich nicht um das Netz? Ich werd’s Ihnen sagen.« Erneut schnappte sie drohend das Clipboard. »Lady Schrapnell…«
»Hat sie ihn etwa nach 1940 geschickt?« fragte ich. Badri war pakistanischer Herkunft. Er wäre bestimmt als japanischer Spion verhaftet worden.
»Nein«, erwiderte sie. »Sie hat ihn nach London geschickt, um einen Historiker ausfindig zu machen, der vermißt wird. Weshalb ich mich jetzt um die Kleiderkammer und das Netz und um Leute, die dumme Fragen stellen, kümmern darf.« Sie knallte das Clipboard hin. »Und falls Sie jetzt davon keine mehr auf Lager haben, dann entschuldigen Sie mich — ich habe einen Sprung höchster Priorität zu berechnen.« Sie drehte sich zur Konsole und hackte wütend auf die Tasten.
Vielleicht doch eher ein Erz-Erzengel, einer von denen mit den riesigen Schwingen und Hunderten von Augen, die, die so fürchterlich anzusehen waren. Wie nannte man sie? Sarabande?
»Am besten, ich hole Mr. Dunworthy«, flüsterte Finch mir zu. »Sie bleiben hier.«
Mit diesem Vorschlag war ich mehr als einverstanden. Langsam machte sich bei mir die Schläfrigkeit bemerkbar, über die mich die Krankenschwester befragt hatte, und das einzige, was ich noch wollte, war mich hinsetzen und ausruhen. Ich entdeckte einen Stuhl auf der anderen Seite des Netzes, den ich von einem Stapel Gasmasken und Handpumpen freiräumte, damit ich meine Füße darauf legen, auf Finch warten und versuchen konnte, mich an den Namen der Erz-Erzengel zu erinnern, die mit den Augen ringsherum. Er begann mit S. Samurai? Nein, das war Lady Schrapnell. Sylphen? Nein, das waren die himmlischen Geister, die durch die Lüfte schwirrten. Der Name der Wassergeister begann anders. Ein N. Nemesis? Nein, das war auch Lady Schrapnell.
Wie hießen sie bloß? Hylas traf sie, als er Wasser aus einem Teich schöpfte, und sie zogen ihn mit sich unter die Oberfläche, umschlangen ihn mit ihren weißen Armen und ihrem nußbraunen Haar, zogen ihn tief, tief nach unten ins Wasser…
Ich mußte eingedöst sein, denn als ich die Augen öffnete, war Dunworthy da, und die Technikerin bedrohte ihn mit ihrem Clipboard.
»Ganz unmöglich«, sagte sie gerade. »Ich habe noch vier Fixierungen zu erledigen und acht Rendezvous, zudem muß ich ein Kleid reinigen und instand setzen lassen, das eine Ihrer Historikerinnen klitschnaß und ruiniert zurückgebracht hat.« Sie durchblätterte ungestüm die auf das Clipboard gehefteten Papiere. »Der früheste Termin wäre am Freitag, den siebten, um halb vier.«
»Den siebten?« Finch klang, als würde er stranguliert. »Das ist nächste Woche!«
»Es muß heute sein«, sagte Dunworthy fest.
»Heute?« Sie erhob das Clipboard wie eine Waffe. »Heute?«
Seraphim. Die, die ringsum Augen haben und von Flammen umgeben sind, aus denen Blitze schießen.
»Man bräuchte gar keine neuen Daten zu berechnen«, meinte Dunworthy. »Wir könnten die von Miss Kindle nehmen. Und wir könnten den Sprung benutzen, den Sie auf Muchings End fixiert haben.« Er schaute sich im Labor um. »Wo ist der Leiter der Kleiderkammer?«
»In 1932«, sagte sie. »Untersucht Chorgewänder. Ein Sprung höchster Priorität für Lady Schrapnell, um herausfinden, ob das Übergewand aus Leinen oder Baumwolle war. Das heißt, ich leite jetzt die Kleiderkammer. Und das Netz. Und alles übrige hier auch.« Sie blätterte die Papiere in ihre frühere Position zurück und setzte sich wieder an die Netzkonsole. »Vollkommen ausgeschlossen. Er könnte auch in dem Zustand, in dem er jetzt ist, gar nicht springen, selbst wenn ich in der Lage wäre, Ihren Sprung noch einzubauen. Außerdem müßte er sich erst mit den Gebräuchen und der Geschichte des victorianischen Zeitalters vertraut machen.«
»Ned soll nicht mit der Königin Tee trinken«, sagte Dunworthy. »Sein Auftrag wird nur geringen Kontakt mit Zeitgenossen erfordern, wenn überhaupt. Dazu braucht er keinen Kurs in Victorianismus.«
Der Seraph langte nach seinem Clipboard.
Finch duckte sich.
»Er ist fürs zwanzigste Jahrhundert eingeteilt«, sagte der Engel. »Er wäre ja dann außerhalb seines Bereiches. Nein, ich kann nicht erlauben, daß er dermaßen unvorbereitet losgeschickt wird.«
»Auch gut«, sagte Dunworthy. Er wandte sich mir zu. »Darwin, Disraeli, das indische Problem, Alice im Wunderland, die kleine Neil,[7]Turner, Tennyson, Drei Mann in einem Boot, Krinolinen, Crocket…«
»Federhalterwischer«, warf ich ein.
»Federhalterwischer, gehäkelte Sofaschoner, Haarnetze, Prinz Albert, Erröten, Gehröcke, sexuelle Unterdrückung, Ruskin, Fagin, Elizabeth Barrett Browning, Dante Gabriel Rosetti, George Bernard Shaw, Gladstone, Galsworthy, Neugotik, Gilbert und Sullivan, Rasentennis und Sonnenschirme. So«, sagte er zu dem Seraphen. »Er ist vorbereitet.«
»Für das neunzehnte Jahrhundert braucht man drei Semester politischer Geschichte, außerdem zwei…«
»Finch«, sagte Dunworthy. »Gehen Sie zum Jesus College hinüber und holen Sie Kopfhörer und Kassetten. Ned kann sich im Schnellauf Sublimationen anhören, während Sie« — er wandte sich wieder an den Engel — »ihm Kleidung besorgen und den Sprung vorbereiten. Er braucht Sommerkleidung, weißes Flanell, Baumwollhemd, Bootsblazer. Als Gepäck…«
»Gepäck!« rief der Seraph mit hervorquellenden Augen. »Ich habe keine Zeit, Gepäck zusammenzusuchen! Ich habe neunzehn Sprünge…«
»Auch gut«, sagte Dunworthy. »Dann kümmern wir uns um das Gepäck. Finch, gehen Sie zum Jesus College hinüber und besorgen Sie victorianisches Gepäck. Haben Sie übrigens Chiswick angerufen?«
»Nein, Sir. Er war nicht da. Ich habe eine Nachricht hinterlassen.«
Damit verließ er das Labor, wobei er fast mit einem großen, schlanken jungen Farbigen zusammenprallte. Dieser trug einen Stapel Papiere und sah keinen Tag älter als achtzehn aus. Ich hielt ihn zuerst für einen der Demonstranten von draußen und streckte meine Hand nach einem der Zettel aus, aber der junge Mann ging schnurstracks auf Dunworthy zu und sagte nervös: »Mr. Dunworthy? Ich bin T. J. Lewis. Von der Abteilung Zeitreise. Sie wollten Mr. Chiswick sprechen?«
»Ja. Wo steckt er?«
»In Cambridge, Sir.«
»In Cambridge? Was, zum Teufel, macht er denn da?«
»Be-bewirbt sich um eine Stelle«, stammelte der junge Mann. »Er hat ge-gekündigt, Sir.«
»Wann?«
»Eben gerade. Sagte, er hielte die Arbeit für Lady Schrapnell keine Minute länger aus, Sir.«
»Tja.« Dunworthy setzte die Brille ab und betrachtete sie. »Tja — dann… Na gut… Sie sind also Mr. Lewis?«
»T. J., Sir.«
»T. J., sagen Sie doch bitte dem stellvertretenden Direktor — wie heißt er noch? Ranniford? —, daß ich ihn sprechen muß. Dringend.«