Ich schob einen Finger zwischen das Band und meinen Adamsapfel, um zu verhindern, daß sie mich strangulierte.
»Im victorianischen Zeitalter waren die Frauen sanftmütig, bescheiden und unterwürfig.«
»Sie wissen, wessen Schuld das ist, nicht wahr?« Miss Wärter riß das Band wieder an sich. »Die von Lady Schrapnell. Warum, um alles in der Welt, will sie diese Kathedrale überhaupt rekonstruieren? Sie ist nicht einmal Engländerin. Sie ist Amerikanerin! Nur weil sie einen englischen Adligen geheiratet hat, gibt ihr das nicht das Recht, hier in unser Land zu kommen und unsere Kirchen wieder aufzubauen. Außerdem waren die beiden nur kurz verheiratet.«
Sie riß meinen Arm in die Höhe und rammte mir das Band in die Achselhöhle. »Und wenn sie schon unbedingt etwas wiederaufbauen will, warum nicht etwas, das es wert ist, wie zum Beispiel das Covent Garden Theater? Warum unterstützt sie nicht die Royal Shakespeare Company? Sie brachten diese Saison nur zwei Stücke auf die Beine, und eines davon war eine altmodische Produktion von Richard II. mit nackten Darstellern aus dem Jahre 1990. Natürlich wäre es zuviel verlangt, von jemanden, der aus Hollywood kommt, so etwas wie Kunstverständnis zu erwarten! Videos! Interaktive Spiele!«
Sie nahm rasch und nachlässig Maß an meinem Oberkörper, Armen und im Schritt, bevor sie verschwand.
Ich ging wieder zu meinen Stühlen, lehnte meinen Kopf gegen die Wand und dachte, wie friedlich es doch sein müßte, wenn man ertränkt worden wäre.
Die folgende Zeit bekam ich nur noch verschwommen mit. Im Ohrstöpsel wurden victorianische Tischsitten besprochen, die Entwarnung mutierte zum Signal für ›Akute Gefahr‹, und der Seraph brachte mir einen Stapel gefalteter Hosen, die ich anprobieren sollte, aber ich erinnere mich an nichts von alledem genau. Einmal schleppte Finch einen Berg Gepäckstücke herein — ein Portmanteau, eine große Reisetasche, einen kleinen Rucksack, einen Handkoffer und zwei mit Kordel verschnürte Kartons. Ich dachte, ich sollte wie bei den Hosen etwas auswählen, aber es stellte sich heraus, daß ich alles nehmen sollte. »Ich besorge noch den Rest«, sagte Finch und verschwand wieder. Der Seraph entschied sich für ein Paar weiße Flanellhosen und ging Hosenträger holen.
»Die Austergabel liegt neben dem Suppenlöffel, die Zinken zum Teller gerichtet«, sagte die Stimme im Ohrstöpsel. »Der Austernspieß liegt links daneben. Man hält die Schale ruhig in der linken Hand und hebt die Auster an einem Stück aus der Schale, wobei man, falls nötig, zur Unterstützung den Spieß benutzt.«
Ich döste wieder hinweg, bis der Seraph mich rüttelte, um mir verschiedene Kleidungsstücke anzuprobieren und die weiße Salbe abzuwischen.
Ich berührte vorsichtig meine Oberlippe. »Wie sieht es aus?«
»Schief«, entgegnete der Seraph. »Ist aber nicht zu ändern. Haben Sie Rasierzeug für ihn eingepackt?«
»Ja«, sagte Finch, der gerade mit einem großen geflochtenen Picknickkorb ins Zimmer kam. »Zwei Haarbürsten aus dem Ashmoleia-Museum, einen Rasierpinsel und eine Seifenschale. Hier ist das Geld.« Er reichte mir eine Brieftasche, die fast so groß wie das Portmanteau war. »Es sind fast nur Münzen. Die Banknoten aus dieser Zeit haben ziemlich an Wert verloren. Hier, noch das Bettzeug. Ich habe den Korb voll Proviant gepackt, und in den Kartons sind Konservendosen.« Er eilte wieder hinaus.
»Die Fischgabel wird links neben die Fleisch- und Salatgabeln gelegt«, schwadronierte die Stimme. »Man erkennt sie an den spitzen, gebogenen Zinken.«
Der Seraph, über dessen Arm ein feuchtes weißes Kleid hing, reichte mir ein Hemd zum Anprobieren. Ich dachte an die Wassernymphe, wie sie den Flatterärmel über dem Teppich auswrang, das Abbild reinster Schönheit. Ich überlegte, ob Wassernymphen Fischgabeln benutzten und ob sie Männer mit Schnurrbärten mochten. Hatte Hylas auf dem Gemälde von Waterhouse einen Schnurrbart? Das Gemälde hieß Hylas und die…Das Wort begann mit einem N. Wie nannten sie sich bloß?
Die Verschwommenheit dauerte an. Ich erinnere mich, daß Finch mit noch mehr Gepäck hereinkam, einem Weidenkorb mit Deckel, daß der Seraph etwas in meine Westentasche stopfte und daß Finch mich an der Schulter rüttelte und fragte, wo Dunworthy sei.
»Er ist nicht hier«, erwiderte ich, irrte mich aber. Er stand direkt neben dem Weidenkorb und wollte wissen, was Finch herausgefunden hatte.
»Wie groß war der Schlupfverlust?« fragte er.
»Neun Minuten«, erwiderte Finch.
»Neun Minuten?« Dunworthy runzelte die Stirn. »Und Miss Kindles andere Sprünge?«
»Minimal. Zwei Minuten bis zu einer halben Stunde. Man kommt an einer einsamen Stelle an. Die Chance, gesehen zu werden, ist äußerst gering.«
»Bis auf das eine Mal, wo man doch gesehen wird«, meinte Dunworthy, immer noch mit gerunzelter Stirn. »Und die Rückkehr?«
»Rückkehr?« fragte Finch. »Bei der Rückkehr gibt es keine Schlupfverluste.«
»Das weiß ich«, sagte Dunworthy. »Wir haben hier aber eine ungewöhnliche Situation vor uns.«
»Ja, Sir«, entgegnete Finch. Er ging zu Miss Wärter und konferierte einige Minuten lang mit ihr. »Kein Schlupfverlust bei der Rückkehr«, sagte er, als er wiederkam.
Dunworthys Miene entspannte sich.
»Was ist mit Hasselmeyer?«
»Ich habe ihm eine Nachricht durchgegeben.«
Die Tür öffnete sich, und T. J. Lewis eilte mit einem dünnen Stapel Papiere ins Zimmer. »Ich habe alles Verfügbare zusammengesucht«, sagte er. »Viel ist es nicht. Die Geräte zur Messung von Inkonsequenzen sind außerordentlich teuer. Zeitreise plante, das Geld von dem Kathedralenprojekt dafür zu verwenden. Die meisten der heutigen Physiker halten Inkonsequenzen für unmöglich. Außer Fujisaki.«
»Fujisaki hält sie für möglich? Wie lautet seine Theorie?«
»Er hat zwei Theorien. Die eine lautet, daß es keine Inkonsequenzen sind, da es Objekte und Ereignisse im Raumzeitkontinuum gibt, die unwichtig sind.«
»Wie kann das sein? In einem chaotischen System ist jedes Ereignis mit jedem anderen verknüpft.«
»Stimmt, aber das System ist nichtlinear«, entgegnete T. J., in den Papieren blätternd. »Es gibt Rückkopplungen und Vorwärtsentwicklungen, Überzähliges und Interferenzen, und so ist die Auswirkung auf einige Objekte und Ereignisse extrem und auf andere wiederum gleich Null.«
»Und eine parachronistische Inkonsequenz ist ein Objekt, dessen Entfernung keine Auswirkung hat?«
T. J. grinste. »Genau. Wie die Luft, welche die Historiker in ihren Lungen mitbringen oder«, er schaute zu mir, »der Ruß. Seine Entfernung erzeugt keine Rückwirkung im System.«
»Und in diesem Fall braucht dieses Objekt auch nicht in seine ursprüngliche Zeit zurückgebracht zu werden?« fragte Dunworthy.
»In diesem Fall kann es höchstwahrscheinlich nicht zurückgebracht werden«, sagte T. J. »Das Kontinuum würde das verweigern. Weil es in seinem zurückgebrachten Zustand ebenso unwichtig wäre. Unglücklicherweise beschränkt sich diese Art von Inkonsequenzen ziemlich auf Luft und Ruß. Größere Gegenstände haben eine deutliche Auswirkung.«
Sogar Federhalterwischer, dachte ich und lehnte den Kopf gegen die Wand. Ich hatte beim Herbstfest des Chors mit Versteigerung von Bergungsgut einen orangefarbenen gekauft, der so groß wie ein Kürbis war und ihn vergessen, und als ich versuchte, zurückzuspringen, hatte sich das Netz nicht geöffnet. Schläfrig wunderte ich mich, wieso es sich für das Plätzchen geöffnet hatte.